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Freitag, 9. Juli 2021

Jakobus in Tauscha

Es dauert nicht lange, und ich habe meine Mitpilger eingeholt. Bis Kamenz entwickelt sich eine neue Pilgerstruktur: wir gehen voreinander her, eine Weile miteinander, dann wieder hintereinander. Entweder bin ich vorne oder die beiden führen. So geht es bis nach Kamenz, wo ich Astrid und Allan an der Gedenkstätte eines lange verschwiegenen Konzentrationlagers ein letztes Mal treffe. Das KZ im Herrental war jahrelang eine unauffällige Fabrikanlage, in der sich während der NS-Zeit Grauenhaftes abgespielt hat.

Donnerstag, 10. Juni 2021

Eine Pilgeroase in Crostwitz

Ich nehme Abschied von Astrid und Allan, meinen Mitpilgern, mit denen ich mir das Petri-Zimmer in Bautzen geteilt habe. Jede Begegnung, die unsere Seele berührt, hinterlässt eine Spur, die nie ganz verweht, eine Sentenz von Lore-Lillian Boden, nehme ich als Leitmotiv für diesen Wandertag. Die beiden stehen gerade auf, als ich aufbreche. Unten auf dem Hof kommt ein Offizieller mit dem Fahrrad zur Arbeit. Er spricht mich auf die beiden an, und regt sich darüber auf, dass sie zwei Tage in der Herberge übernachtet haben. "Das geht nicht," ereifert er sich, "ich bekomme Schwierigkeiten mit den gewerblichen Anbietern. Unsere Pilgerherberge ist kostenlos und jeder hier weiß, dass sie nur für eine Nacht genutzt werden darf." Ich murmele etwas von Bautzen sei doch viel zu schön für einen Tag, und ziehe meines Wegs. Ich habe selbst mit dem Gedanken gespielt, einen Tag länger zu bleiben.

Donnerstag, 3. Juni 2021

Unterwegs nach Bautzen

Ich breche zeitig auf. Es ist noch nicht neun Uhr, als ich mich von den freundlichen Menschen auf dem Bauernhof verabschiede. Die Bäuerin erklärt mir eine Abkürzung zurück auf die Via Regia, nicht ohne mir ans Herz zu legen, in der Tortenzauberei im Ort vorbeizuschauen, um mir die Pilgerkekse zu kaufen. Die besondere Bäckerei im Blauen Hof finde ich auf einem Bauernhof am Ortsrand von Nechern. Die gelernte Konditorin Frau Tschipke fertigt in Ihrem Meisterbetrieb individuell nach Kundenwunsch Kuchen und Torten wie aus Großmutters Zeiten an. Sie hat auch an Stärkendes für die Pilger gedacht. Ich zögere zuerst einzutreten, da ich glaube, mich geirrt zu haben, sehe dann aber eine Tür, die nach einem Laden aussieht. Sofort stehe ich mitten in der Backstube, wo zwei Frauen in weißen Schürzen arbeiten. Ich will schon wieder heraus, als mich eine der Frauen zurückruft, und mich freundlich hereinbittet. Ich bin schon richtig, meint sie, Laden und Backstube sind ein Raum. Dann sehe ich erst die Verkaufstheke, die hinter den Gerätschaften der Backstube fast verschwindet; beladen mit Cellophantüten, in denen verschiedene Kekssorten locken. Eine der Frauen präsentiert mir stolz ihr Sortiment von Pilgerkeksen. Die Auswahl fällt mir schwer, aber schließlich ziehe ich mit einer Tüte mit Ingwerkeksen meines Wegs.
Ein schöner Feldweg, den auf einer Seite eine große Hecke begrenzt, führt aus Nechern ins Freie. Am sogenannten Schwedenstein treffe ich auf die Via Regia. Dieser Findling, nur im Volksmund so genannt, erinnert an eine Episode des Nordischen Krieges, der zwischen 1700 und 1721 hier stattgefunden hat. Als ein Monument der Erinnerungskultur hat ihn der Wurschener Grundbesitzer, Freiherr von Thielau 1810 aufgestellt.

Sonntag, 30. Mai 2021

Durch die Gröditzer Skala

Ich schaue aus dem Fenster und verliere die Lust aufzustehen. Anscheinend hat es die ganze Nacht geregnet. An den Scheiben verbinden sich die Tropfen zu Rinnsalen, die langsam abwärts fließen. Leben heißt, auf etwas zuzuwandern. Doch warum gleich im Regen? Ortega y Gasset hat diesen Satz sicher am Schreibtisch und im Trockenen geschrieben, beruhige ich mich, bleibe liegen und verschlafe schließlich. Heute ist mein Geburtstag: mein fünfundsechzigster. Ich glaube, ich bin das erste Mal in meinem Leben an meinem Geburtstag allein. Eine Premiere! Ohne Netz keine Glückwünsche. Keine Feier! Kein Zusammensein mit anderen Wanderern. Niemand kann mich telefonisch erreichen. Bedeutet netzlos sein, von der Kommunikation ausgeschlossen zu sein? Natürlich nicht, höchstens abgeschnitten, für eine Weile. Es gab eine Zeit, da spielte das keine Rolle. Wochenlang reiste ich durch Europa und Asien; niemand konnte mich erreichen, und ich niemanden. Familie und Freunde wussten nicht, wo ich war und wie es mir ging. Was in der Heimat geschah, dass konnte ich mir allenfalls ausmalen. Inzwischen hat das Smartphone die Kontrolle über unsere Bedürfnisse übernommen, und ohne es wirklich zu wollen, mache ich mir überflüssige Gedanken. Ob jemand ein Glas Sekt für mich trinkt, und dabei an mich denkt? Ganz bestimmt. Es ist in Ordnung wie es ist. Ich habe es nicht anders gewollt. Ob die Meinen damit auch so gut zurechtkommen? Macht es Sinn, nach Bedeutung zu fragen, wenn es keine Antwort gibt? Die eigenen Fantasien wurzeln in archaischen Bedürfnissen und schlagen lustige Kapriolen. Ich fühle mich ein wenig verspottet, weiß aber einen Augenblick später, dass auch das zur Heimat gehört. Sehnsucht richtet sich manchmal rückwärts. Geburtstage sind weniger wichtig geworden, seit ich älter bin. Ich vermeide sie inzwischen gerne, und setze mich über die Konvention hinweg, dass jedes neue Lebensjahr mir eine Feier bereiten muss. Ich zelebriere mein neues Jahr auf meine Weise: Ich wandere durch Sachsen und erfülle mir einen Traum von Ungebundenheit und Freiheit. Es gilt noch immer: I wasn´t born to follow! Vielleicht ein Anfang. Ich fühle mich melancholisch, nicht einmal traurig. Ich denke an John Lennon und weigere ich mich trotzig, Fünfundsechzig zu sein. Da ist nicht unvernünftig. Fast bin ich Pensionär und kein Arbeitsleben beeinflusst mich länger. Ein wahrhaft großartiges Geburtstagsgeschenk. Grund genug für ein rauschendes Fest. Rente mit 67! Welch ein Witz! Die Inkompetenz der Volksvertreter, der etablierten politischen Klasse, versteht es hervorragend, nur ihre Klientel zu bedienen und in die eigene Tasche zu wirtschaften. Sie haben mir fünf Monate gestohlen.
Die morgendliche Stille in der Jugendscheune von Melaune ist absolut. Ich höre nichts, nur die Geräusche, die ich selbst mache, und frage mich, ob Stille nicht mehr ist als nichts, mehr als die Abwesenheit von Geräuschen, von Lauten, von Lärm und dem allgegenwärtigen Klang der Großstadt. In der Stille von Melaune werden meine Gedanken laut, und meine Gefühle suchen nach den richtigen Worten. Paul Simon thematisiert in seinem Lied The Sound Of Silence das Unbehagen von Menschen an der Stille, die häufig in Ängste, Depressionen und Schlafstörungen mündet:

Dienstag, 4. Mai 2021

Aufbruch an der Neiße

Ich schwitze schon, bevor meine Fußreise wirklich begonnen hat. Als ich die U-Bahn am Südstern erreiche, weiß ich, dass mein Rucksack zu schwer ist. Lange habe ich überlegt, was ich wirklich brauche, habe in den letzten Tagen aussortiert und wieder einsortiert, und zuletzt eine Entscheidung getroffen. Während ich zum Südstern gehe, fällt mir nichts ein, was ich wieder auspacken könnte. Einfachheit und Bescheidenheit zu wollen, heißt nicht, sie sofort umsetzen zu können. Idealisierung ist leicht, mit den Konsequenzen zu leben, dagegen etwas völlig Anderes. Immer wieder fällt mir mein Bedürfnis nach Kontrolle und Sicherheit in den Rücken. Eine Fußreise ist allerdings alles andere als überschaubar oder planbar. Loslassen ist eine Kunst, die ich immer wieder gegen meine Gewohnheiten verteidigen muss. Während ich in den U-Bahnschacht hinuntergehe, kommt mir Nelly Sachs in den Sinn: Alles beginnt mit der Sehnsucht, meint sie. Ich hätte mein Leitmotiv nicht besser ausdrücken können.
In der überfüllten U-Bahn läuft mir der Schweiß bereits in Strömen den Rücken hinab, und tropft mir von der Stirn. Schon zu Beginn erlebe ich die ersten Konsequenzen der Unsicherheit vor einer Reise, wie ich sie vorher erst ein einziges Mal unternommen habe: Allein durch unbekanntes Gebiet zu wandern, eine Gegend in Deutschland, die mehr oder weniger dicht besiedelt und strukturiert ist. Doch ich bin mir sicher: Es ist nicht möglich, sich in Europa zu verlaufen. In meiner Anspannung bin ich viel zu früh am ZOB, wo trotz der morgendlichen Stunde reges Leben herrscht. Der Bus mit dem ich nach Görlitz fahre, ist fast leer. Kein Geschäft für den Postbus, für mich aber eine angenehme, vierstündige Reise.
Nach einem Jahr bin ich wieder in Görlitz. Schwer beladen suche ich mir den Weg in die Stadt und lande schwitzend im Café Schwerdtner, genau wie im letzten Jahr, als ich auf Ralf warten musste, dieses Mal aber ohne Fahrrad. Ein Eis-Orange-Drink kühlt mich auf angenehme Temperatur herab, ein nachgeschobener Cappuccino besiegt den Spannungskopfschmerz; die letzte Nacht war viel zu kurz. Aber ich fühle mich zu Hause in Görlitz, komme mir vor, wie ein alter Bekannter, der noch einmal kurz vorbeischaut.

Montag, 12. April 2021

Ein ökomenischer Pilgerweg

In einem Umfeld von Hypermobilität sind Fußreisen, gleichgültig ob real oder virtuell, revolutionär, und wie jede Revolution subversiv. Revolutionen sind immer visionär. Wer zu Fuß geht, stellt sich eine andere Welt vor: Teilhabe statt Haben. Bewegung statt Konsum. Eine innere und äußere Balance von Natur und Kultur - nachhaltig, ökologisch und friedlich. Eine Welt, die so beschaffen ist, bildet einen sozial gerechten Lebensraum.
Wer hat in einem bestimmten Alter nicht schon einmal gedacht, wenn ich wieder jung wäre. . . . ! Und manchmal, im Stillen, mit dem Nachsatz: Was würde ich dann alles anders machen. Die vergangenen Jahre mit ihren vielfältigen Erfahrungen provozieren solche Gedanken ohne bewusstes Zutun. Wer dann versteht, nicht nur auf seine Gedanken zu hören, sondern auch auf seine Gefühle zu achten, der wird nicht nur erkennen, sonders es tief in sich spüren, dass die verstrichenen Jahre gute waren und weitere folgen werden. Meine kommenden Jahre beginnen damit, dass ich wieder zu Fuß gehen werde. Nur dem Fußgänger rücken die für das Überleben unseres Planeten immer wichtiger werdenden Werte Entschleunigung und Nachhaltigkeit, Autonomie von überholten Gewohnheiten und ein alternatives Erleben von Raum und Zeit näher.

Die Via Regia, die königliche Straße, war im Mittelalter ein Handelsweg, der Ost- und Westeuropa miteinander verband. Eine internationale kommunikative Achse aus dem Osten in den Westen Europas. Die Straße stand im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation unter dem Schutz der königlichen Zentralgewalt. Land- und Heerstraßen gab es im mittelalterlichen Europa viele, die bedeutendste aber war die auch als Hohe Straße bezeichnete Via Regia, die das Rheinland mit Schlesien verband.
In einer Urkunde des Markgrafen Heinrich von Meißen wird die Via Regia 1252 zum ersten Mal als Strata Regia, königliche Straße, erwähnt. Ihre Anfänge reichen allerdings bis ins 8. Jahrhundert zurück. Die Hohe Straße folgte den Flusstälern, an deren Furten die Siedlungen lagen, und die Städte in ihren Verlauf einbezogen werden konnten. Nach dem Niedergang der königlichen Zentralgewalt, spätestens jedoch seit dem 14. Jahrhundert, kann von diesem Handelsweg als von einer rechtlich verbindlichen Via Regia nicht mehr gesprochen werden. In ihrer Funktion, und unter dem eingebürgerten Namen Hohe Straße, bestand sie als Handelsweg aber weiter. Einzelne Fürsten oder Landesherren, besonders der König von Böhmen sowie die sächsischen Kurfürsten, hatten Kontrolle und Schutz für diese Straße in Mitteldeutschland übernommen, die wirtschaftlich von großer Bedeutung für den überregionalen Handel und Warenaustausch war. Die Via Regia verband die beiden großen Messestädte Frankfurt am Main und Leipzig, und beförderte Textilien und Felle, Wachs, Honig und Holz aus Westeuropa im Tausch gegen den Färberwaid des Thüringer Beckens sowie die Bergbauprodukte Obersachsens.
Auch das Militär machte ich die Achse Via Regia für die Bewegungen ihrer Armeen zunutze. Im Einzugsbereich der Straße fanden historisch bedeutende Schlachten statt, wie die von Hochkirch, Auerstedt, Großgärschen oder Bautzen. Nach der Niederlage Napoleons und den strukturellen Veränderungen in Mitteldeutschland nach dem Wiener Kongress von 1815 verlor die Hohe Straße ihre Regionen verbindende Bedeutung immer mehr.
2005 wurde die Via Regia vom Europarat zur europäischen Kulturstraße erklärt. Sie verläuft von Breslau in Schlesien, nach Görlitz und Bautzen, über Kamenz, Königsbrück, Großenhain, Eilenburg, Grimma, Leipzig, Weißenfels, Naumburg an der Saale, Eckartsberga, Erfurt, Eisenach, Hünfeld, Fulda, Neuhof, Steinau an der Straße, Gelnhausen, Hanau, Frankfurt am Main, und von dort über den Rhein und weiter bis in die Handelszentren Belgiens und der Niederlande und ihrer Häfen.