Donnerstag, 3. Juni 2021

Unterwegs nach Bautzen

Ich breche zeitig auf. Es ist noch nicht neun Uhr, als ich mich von den freundlichen Menschen auf dem Bauernhof verabschiede. Die Bäuerin erklärt mir eine Abkürzung zurück auf die Via Regia, nicht ohne mir ans Herz zu legen, in der Tortenzauberei im Ort vorbeizuschauen, um mir die Pilgerkekse zu kaufen. Die besondere Bäckerei im Blauen Hof finde ich auf einem Bauernhof am Ortsrand von Nechern. Die gelernte Konditorin Frau Tschipke fertigt in Ihrem Meisterbetrieb individuell nach Kundenwunsch Kuchen und Torten wie aus Großmutters Zeiten an. Sie hat auch an Stärkendes für die Pilger gedacht. Ich zögere zuerst einzutreten, da ich glaube, mich geirrt zu haben, sehe dann aber eine Tür, die nach einem Laden aussieht. Sofort stehe ich mitten in der Backstube, wo zwei Frauen in weißen Schürzen arbeiten. Ich will schon wieder heraus, als mich eine der Frauen zurückruft, und mich freundlich hereinbittet. Ich bin schon richtig, meint sie, Laden und Backstube sind ein Raum. Dann sehe ich erst die Verkaufstheke, die hinter den Gerätschaften der Backstube fast verschwindet; beladen mit Cellophantüten, in denen verschiedene Kekssorten locken. Eine der Frauen präsentiert mir stolz ihr Sortiment von Pilgerkeksen. Die Auswahl fällt mir schwer, aber schließlich ziehe ich mit einer Tüte mit Ingwerkeksen meines Wegs.
Ein schöner Feldweg, den auf einer Seite eine große Hecke begrenzt, führt aus Nechern ins Freie. Am sogenannten Schwedenstein treffe ich auf die Via Regia. Dieser Findling, nur im Volksmund so genannt, erinnert an eine Episode des Nordischen Krieges, der zwischen 1700 und 1721 hier stattgefunden hat. Als ein Monument der Erinnerungskultur hat ihn der Wurschener Grundbesitzer, Freiherr von Thielau 1810 aufgestellt.

Im September 1706 hatte der schwedische König Karl XII., vor der geplanten Eroberung Sachsens, in einer Talaue bei Nechern ein Biwak abgehalten. Der Gastgeber des Schweden war der Nechener Gutsbesitzer Rudolf von Ziegler und Kipphausen, der im Auftrag der Lausitzer Stände den Schwedenkönig um diese Zusammenkunft gebeten hatte. An das Ergebnis der Verhandlungen hielten sich die Schweden: Land und Leute wurden in den bevorstehenden militärischen Auseinandersetzungen verschont.
Der Himmel über mir präsentiert sich so blau er kann, fast wolkenlos. So früh am Morgen streichelt mir die Sonne angenehm die Haut. Der Regen von gestern liegt so weit zurück, dass ich ihn kaum noch erinnere. Ein perfekter Start in den Tag. Die Bank am Schwedenstein nutze ich für eine kurze Rast. Ich muss unbedingt die Pilgerkekse probieren. Die Hälfte der leckeren Kekse ist schnell verputzt. Das ist gut, desto weniger muss ich tragen. Ein schmaler Pfad, den ich fast übersehen habe, biegt am Schwedenstein in ein Wäldchen nach Wurschen ab. Plötzlich ist auch der Kuckuck wieder da, und begleitet mich auf Schritt und Tritt. Unter einer Brücke schießt ein Eisvogel ins Freie, ein blau glänzender Pfeil in der Morgensonne. Ein Katzensprung zwischen Bäumen und Teichen hindurch, Wurschen und das Schloss sind schnell erreicht. Irgendwo soll ein Gedenkkreuz für ein Mädchen stehen, dass bei einem Hochwasser des Kotizter Wassers ertrunken ist. Ich gehe noch einmal zurück, aber das Kreuz, um des Mädchens zu gedenken, kann ich nicht finden.
Wurschen, oder Worcyn, ein Dorf mit 318 Einwohnern, gehört seit je zum sorbischen Siedlungsraum. Der Ort besteht aus einer alten Gutssiedlung, die 1359 als Wursyn erstmals erwähnt wird. Seit 1390 ist hier ein Herrensitz belegt. Auf dem großen, umbauten Schlossplatz, das Schloss mehr ein Herrenhaus, komme ich an einer Informationstafel vorbei, die den Vorübergehenden an Napoleons zweiten Sieg im Frühjahrsfeldzug im Jahre 1813 erinnert. Während der Schlacht bei Bautzen im Mai 1813 befand sich im Wurschener Schloss das Hauptquartier der verbündeten Russen und Preußen, der gegen den napoleonischen Imperialismus alliierten Staaten. Damals noch innovativ, hatte Napoleon zwei voneinander unabhängige Heeresteile gleichzeitig auf das Schlachtfeld geführt. Um Bautzen, wohin ich unterwegs bin, waren damals 250 000 Soldaten, 30 000 Pferde und 1200 Kanonen stationiert. Deutsche, aus dem Westen und Osten, standen sich auf beiden Seiten der Front als Feinde gegenüber. Von unbrüderlichen Ossies und Wessies zu reden ist nicht neu. Preußen, Schlesier und Brandenburger kämpften unter dem Kommando des preußischen Generalstabchefs Carl von Wolzogen und Zar Alexander I. von Russland. In Napoleons Heer standen die Rheinbundtruppen aus Württemberg, Baden, Bayern, Hessen und Sachsen. Ein Volkslied erinnert an das Schicksal der Ostallianz, die von Napoleon überrannt wurde:

Das waren schlimme Tage,
Bei Bautzen und Wurschen im Mai.
Es wollte uns nicht glücken
Und standen so mutig und treu.

Wir wurden überflügelt,
Napoleon drängte uns sehr.
Unsere Stellungen mussten wir lassen,
Zurückziehn unser Heer.

Ein Zeugnis dieser Schlacht, der Bataille de Wurschen, befindet sich unter den Reliefs des Arc de Triomphe in Paris.
Ich war unachtsam, abgelenkt von der allgegenwärtigen Geschichtlichkeit einer Region, die mir Westdeutschem lange fremd blieb, die mir nun überall am Weg begegnet. In den 1960er Jahren aus der Schule entlassen, redeten meine Lehrer im Unterricht verschwörerisch von der SBZ, dem Ostblock und der Aggressivität Russlands. In meiner Vorstellung entstand ein mysteriöser Raum, eine unheimliche Terra incognita, die nicht wirklich zu den Überlieferungen der Nachkriegsjahre gehörte. Das Schweigen der Erwachsenen um mich herum sollte ihre Schuld an den Gräueln des Nationalsozialismus verbergen. Doch das verstand ich damals noch nicht, als mein Geschichtsunterricht vor dem Ersten Weltkrieg endete. Im Schatten des alten Gemüzers döst eine gescheckte Katze unter einem Flieder.

Plötzlich finde ich mich auf der verkehrsreichen Landstraße nach Weißenberg wieder, auf der Autos ununterbrochen, und so schnell und dicht aufeinander vorbeifahren, dass es schwierig ist, die andere Straßenseite zu erreichen. Ich habe die Via Regia verloren und ich gehe kilometerweit in die falsche Richtung, bis ich die gelbe Muschel auf blauem Grund wiederfinde. Zwischen Raps- und Weizenfeldern verläuft ein Feldweg nach Drehsa. Der Weizen steht auf beiden Seiten hüfthoch. Ich wandere durch einen grünen Tunnel, der Rain mit dufteten Blumen geschmückt. Das Gehen fällt mir schwer, und ist seit heute Morgen nicht besser geworden. Noch nicht einmal Mittag, und ich fühle mich bereits müde und erschöpft. Der Rucksack drückt zunehmend auf Schultern und Rücken. Die Füße schmerzen und der Muskelkater in den Oberschenkeln legt noch einmal richtig zu. Mir fällt der Straßenbauarbeiter gestern in Heideberg ein, der mir entsetzt nachrief, wie ich mir das nur antun kann. Er meinte das Wandern; vom Pilgern hat er vermutlich noch nie gehört. Jetzt, auf dem Weg nach Drehsa erinnere ich mich an seinen ungläubigen Blick. Eine kurze Pause folgt der nächsten. Obwohl ich weiß, dass es das nicht besser macht, kann ich nicht widerstehen. Von einem zum anderen Mal komme ich schlechter auf die Beine. Eine weitere Rast auf einer Bank unter einer großen, solitären Eiche kostet den restlichen Pilgerkeksen das Leben. Nass geschwitzt ist der Wind zu kalt, um lange im Schatten des großen Baums zu sitzen. Dann bin ich plötzlich in Drehsa. Die Missempfindungen beim Gehen haben die Zeit gedehnt, mir vorgegaukelt, alles hat viel länger gedauert. Der Macht der Gedanken fällt es leicht, Situationen auf emotionaler Grundlage zu konstruieren, und mein Zeitgefühl zu dehnen. Was ich spüre, fühle und erlebe formt sich zu Gedanken, die meine Wanderschaft konstruieren. Am Dorfeingang beäugt mich fragend die nächste Katze. Mit strahlend grünen Augen mustert sie mich aufmerksam. Am Ufer eines Kanals entspannt ausgestreckt, döst sie in der Sonne. Wieder habe ich das Gefühl, dass auch Tiere ein Bewusstsein haben, und vieles besser machen als wir. Hinter einem Zaun das unvermeidliche Bellen der Hunde. Die Katze und mich lässt der Lärm der Eingesperrten kalt.
Auch Drehsa besitzt sein Schloss. An der Via Regia gelegen wurde es erst um 1870 errichtet und erreichte nie die Bedeutung der Weißen Burg in Weißenberg. Schon 1672 wurde eine Gutsherrschaft gegründet, und mehrere Gutshäuser gebaut, in denen die adeligen Familien von Einsiedel und von Gersdorff lebten; ganz prominent im deutschen Adel, die Fürstin Elisabeth zu Lippe-Weißenfeld. 1911 baute man Schloss Drehsa im heutigen Stil um, und legte den großen englischen Schlosspark an. 1947 wurde das Anwesen enteignet und als Tuberkulose-Heilanstalt und Kinderheim genutzt. Später stand das Schloss lange Zeit leer und verfiel zunehmend. Nun befindet sich Schloss Drehsa in privatem Besitz, wurde von den Besitzern umfangreich renoviert und kann eingeschränkt besichtigt werden. Im Schlosspark gibt es eine Sandsteinskulptur der Brunhilde. Eine Reminiszenz an Wagners Ring der Nibelungen. Gerne hätte ich ihr Foto mit nach Hause genommen, konnte sie aber in dem weitläufigen Park, der das Schloss umgibt, nicht finden. Die deutsch-heroischen Statuen von Wotan und Siegfried, an denen ich vorbeikomme, interessieren mich weniger. Ein weiteres Mal verliere ich den Pilgerweg in dem weitläufigen Park. Wie kurz zuvor in Wurschen kann ich die Via Regia nicht finden. Mehrmals gehe ich durch den Park und um die Gebäude herum, bis ich die Muschel hoch oben am Pfosten einer Laterne entdecke.
Auf mit Platten ausgelegten Feldwegen und asphaltierten Straßen strebt die Via Regia auf Bautzen zu. Ich sehe die Silhouette der Stadt schon früh im Dunst des mittlerweile bedeckten Himmels über den Feldern aufragen. Die Ansammlung von Turmspitzen, eine mittelalterliche Skyline. Auf dem Weg in die Stadt komme ich durch mehrere Dörfer und Weiler, in der Peripherie von Bautzen, die das sorbische Zentrum der Oberlausitz wie einen Gürtel umgeben. Baschütz, nur zwei Kilometer nördlich vom Ortskern Kubschütz entfernt, streife ich nur. An der Ortskreuzung liegt das Schlossgut Schkade, ein ehemaliger Vierseitenhof mit Herrenhaus. Die Gemeinde Kubschütz, Kumšicy, die zum amtlichen sorbischen Siedlungsgebiet gehört, entstand 1994 aus den ehemaligen autonomen Gemeinden Jenkwitz, Kubschütz und Purschwitz. Mit dem Namen Cupcici wurde Kubschütz bereits 1088 urkundlich erwähnt. Bis ins 19. Jahrhundert war der Ort eine Enklave von Stolpen, wo die Meißener Bischöfe seit dem frühen 13. Jahrhundert eine Festungsanlage unterhielten. Unter dem Einfluss der Meißener Bischöfe Dietrich III. von Schönberg und Johann VI. von Saalhausen entwickelte sich Stolpen, nur 25 Kilometer östlich von Dresden, im 15. Jahrhundert zu einer Stadt mit eigenen Statuten. Kubschütz, mit 505 Einwohnern, liegt an der Bundesstraße 6 sowie der Bahnstrecke Görlitz-Dresden, an zwei intensiv genutzten Verkehrswegen, die die Atmosphäre des Dorfes bestimmen.
Die erste große Stadt an der Via Regia, nach Görlitz, wo ich vor vier Tagen aufgebrochen bin, liegt vor mir. In Jenkwitz verfehle ich den Weg erneut. Unerwartet finde ich mich am unbefestigten Rand der B 6 wieder. LKW auf LKW donnert über die vierspurige Straße nach Bautzen. Ich flüchte mich, verschreckt und lärmentwöhnt, vor dem Getöse und Gestank des Diesels auf die Terrasse einer Imbissbude. Aus sicherem Abstand, von einem Barhocker aus, beobachte ich skeptisch die urbane Szenerie am Stadtrand, Firmengebäude, Hotels, eine Tankstelle und mehrere breite Abzweigungen, und esse eine Falafeltasche, die mir ein Vietnamese zubereitet hat. Seine Eltern haben einst als Arbeiter am Aufbau des missglückten Sozialismus der DDR mitgewirkt. Eine unwillkommene Pause, die ich lieber in Bautzen gemacht hätte. Ratlos verzehre ich mein frugales Mahl und trockne zum wiederholten Male meine Kleidung im Wind. Ich kann mir nicht vorstellen, die vier Kilometer nach Bautzen am Rand der vielbefahrenden B 6 zu wandern. Fürs erste habe ich einen sicheren Ort gefunden, die Zeit inne zu halten, um mich neu zu sortieren. Die schwüle Wärme des Tages ist einem kühlen Wind gewichen, der immer wieder dunkle Wolken vor die Sonne schiebt. Nach Jenkwitz zurückzugehen, um nachzusehen, wo ich den Weg verfehlt habe, behagt mir nicht. Versuchsweise biege ich in den ersten Feldweg ein, der in die Richtung führt, in der ich die Via Regia vermute. Ich habe Glück. Wenig später finde ich die gelbe Muschel mit den gekreuzten Stäben wieder. Ich schwitze im Wind, und schleppe mich mühsam in die Stadt anstatt entspannt hineinzuspazieren. Am dritten Tag sollte es eigentlich besser gehen. Doch die Aussicht, bald in der Stadt zu sein, treibt mich an. Der Weg in die historische Altstadt zieht sich endlos. Ich bin am falschen Ende der Stadt angekommen, mobilisiere meine letzten Reserven und überlasse mich dem Klack-Klack meiner Stöcke. Schritt für Schritt, ohne zu nachzudenken schalte ich in den Tunnelblickmodus. Der Schlüssel für das Pilgerzimmer ist in der benachbarten Bäckerei deponiert. Es ist der letzte Schlüssel, sagt mir die freundliche Frau hinter der Theke: „Der ist nur für Sie.“ Das Petri-Zimmer ist mit allem eingerichtet was ich brauche; inklusive Küche und Dusche. Luxuriös. Zwei der drei Etagenbetten im Raum sind bereits belegt, aber niemand ist zu Hause. In dieser Nacht werde ich nicht allein sein. Ich beziehe mein Quartier, eins der unteren Betten, und mache mich stadtfein. Ich schaffe es nicht, mich nicht länger ausruhen. Ich bin viel zu neugierig auf Bautzen.

Die ostsächsische, große Kreisstadt Bautzen, sorbisch Budyšin, liegt an der Spree und ist hinter Görlitz die größte Stadt des Kreises, die zweitgrößte Stadt der Oberlausitz.

Obwohl nur knapp zehn Prozent der Einwohner Sorben sind, ist Bautzen ihr kulturelles und politisches Zentrum. Im Frühmittelalter zählte die Stadt zu den größten Städten Mitteldeutschlands, bis die Entwicklung seit dem 15. Jahrhundert stagnierte. Nach der politischen Wende nahm die Einwohnerzahl aufgrund von Abwanderung und niedriger Geburtenrate von 52 000 (1989) auf etwa 40 000 ab, ein Abwärtstrend, der sich inzwischen verlangsamt hat. 2011 waren 98,3 % der Bevölkerung deutsche Staatsangehörige; nur 6,1 % hatten einen Migrationshintergrund. Während der Flüchtlingskrise 2016 erregte Bautzen bundesweite Aufmerksamkeit durch erhebliche rechtsextreme Gewalt gegen Geflüchtete. Die Asylbewerberunterkunft im ehemaligen Hotel Husarenhof wurde von Unbekannten in Brand gesteckt; Schaulustige zeigten unverhohlen ihre Freude über den feigen Anschlag. In der Nacht zum 15. September lieferten sich gewaltbereite Männer und Frauen der rechten Szene mit jugendlichen Asylbewerbern eine Straßenschlacht. Drei Monate später explodierten fünf Molotowcocktails auf dem Gelände einer Asylbewerberunterkunft. Auch das ist Bautzen. Seit diesen Ereignissen, von einer Minderheit betrieben, steht die Stadt undifferenziert in dem Ruf, Symbol für Fremdenhass und Intoleranz zu sein. Doch dies wird nicht der letzte Pogrom in einer Stadt mit langer, wechselvoller Geschichte gewesen sein. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Bautzen nicht von anderen europäischen Städten.

Etymologisch verliert sich der Stadtname im Dunkel des Frühmittelalters. Eine verbreitete Variante besagt, dass die Siedlung nach dem slawischen Fürsten Budissentius benannt wurde. Der Name kann auch von dem weiblichen Eigennamen Budiša, Weckerin, oder von Budy, Hüttensiedlung, abgeleitet sein. Eine volkstümliche Version vermutet, dass dort, wo heute Bautzen liegt, eine schwangere Herzogin überraschend ihr Kind zur Welt brachte. Ihr Gatte soll sie gefragt haben: „Bude syn?“ Wird es ein Sohn?
Auch die Herkunft des Stadtwappens ist nicht eindeutig geklärt: ein Schild mit einer goldenen Zinnenmauer, drei Zinnen der Stadtmauer Bautzens vor einem hellblauen Himmel. Darüber ein grauer Helm, mit herabgelassenem Visier und flügelartiger Helmzier, die die Zinnen auf dem Schild wiederholt. Zwischen Zier und Helm befindet sich eine dreiblättrige, goldene Krone. Aufgrund der besonderen mittelalterlichen Bedeutung Bautzens verwendete man dieses Wappen auch für den Oberlausitzer Städtebund und die gesamte Oberlausitz. Weil das Gefängnis Bautzen I samt der Gefängnismauer aus gelben Backsteinen erbaut ist, Gelbes Elend genannt, stellte man in DDR-Zeiten umgangssprachlich einen Bezug zum Bautzener Stadtwappen her.

Die ersten Siedlungsspuren reichen in die Steinzeit zurück, im frühen Mittelalter lag hier das Siedlungszentrum der slawischen Milzener. Im 11. Jahrhundert fiel die Stadt durch einen Friedensvertrag von Polen an das Heilige Römische Reich der deutschen Kaiser, die die Stadt später als Reichslehen an Böhmen gaben. 1283 wurde das Land Budissin in ein direktes Reichslehen umgewandelt. Mit der Via Regia entstand an einer Furt über die Spree eine wichtige Verkehrsverbindung zwischen dem Rheinland und Schlesien, die der Stadt ihre überregionale ökonomische Bedeutung sicherte. Nach der Hochzeit des brandenburgischen Markgrafen Otto III. mit der Tochter des böhmischen Königs Wenzel I. fiel die Oberlausitz 1243 als Pfandbesitz an die Askanier, ein deutsches Uradelsgeschlecht in Brandenburg und Sachsen. Als dann im 14. Jahrhundert die brandenburgische Linie der Askanier ausstarb, fiel Bautzen wieder an Böhmen. Unter Führung der Stadt verbündeten sich Görlitz, Kamenz, Lauban, Löbau und Zittau mit Bautzen zum Schutz des Landfriedens zum Oberlausitzer Sechsstädtebund, der bis zu seiner Auflösung 1815 eine bedeutende, regionale wirtschaftliche und politische Allianz bildete. Mitte des 15. Jahrhunderts belagerten die Hussiten erfolglos Bautzen, das unter dem Schutz des Erzengels Michael stand. Als die Widerstandskraft der Bautzener erlahmte, erschien der Erzengel mit gezogenem Schwert am Himmel, so die Legende, und schlug den Angriff der Hussiten zurück. Die kriegerische Seite der Engel und Heiligen der katholischen Kirche wird häufig übersehen. Auch Jakobus, dem die Sehnsucht der Pilger nach Santiago de Compostela gilt, spielt als Ritter und Matamoros, Maurentöter, diese kriegerische Rolle; Ideal des 1170 während der spanischen Reconquista gegründeten Orden de Santiago, eine bedeutende Institution bei der Vertreibung der Mauren von der iberischen Halbinsel. Es ist kurios, sich vorzustellen, wie die Soldateska der Conquista mit dem Ruf Santiago! auf den Lippen die indigene Bevölkerung des Inkareichs massakrierten. Michael zur Ehre errichten die Bautzener die Michaeliskirche, sorbisch Michałska cyrkej. Diese Kirche ist nicht der bedeutendste Sakralbau der Stadt, dieses Prädikat gehört unangefochten dem Petridom, er ist aber der interessanteste. Die Michałska cyrkej steht auf einem Felssporn über der Spree, auf dem sich die Bautzener Altstadt erhebt, neben ihr die Alte Wasserkunst, das einstige Trinkwasserreservoir der Stadt. Wie viele andere der beeindruckenden Bauwerke des Mittelalters auch, besitzt die Wasserkunst eine eigene Legende: Bei der Einweihung des ersten hölzernen Bauwerkes floss kein Wasser aus den Leitungen. Der Konstrukteur, ein Mönch, wie könnte es anders sein, floh aus Furcht vor dem Zorn des Stadtrats auf den nahegelegenen Drohmberg (Traumberg). Dort träumte er, dass in den Röhren der Wasserkunst ein Frosch sitzt, in einer konkurrierenden Version eine Ratte, der den ungehinderten Fluss des Wassers behindert. Der aufgeklärte Leser weiß aber, dass die unregelmäßige Wasserförderung in den ersten Wochen auf Lufteinschlüsse im Röhrensystem zurückzuführen ist. Bis heute sind Michaeliskirche und Wasserkunst die Wahrzeichen Bautzens.
Ein paar Jahrzehnte später fiel die Oberlausitz, und damit Bautzen, an Ungarn, dann wieder an Böhmen. Obwohl sich ab 1520 die Thesen der Reformation in der Lausitz durchgesetzt hatten, blieben das Kollegiatkapitel Sankt Petri und der böhmische Landesherr katholisch. Der Dreißigjährige Krieg war auch für Bautzen eine schlimme Zeit. Die Stadt wurde mehrmals von den Truppen Wallensteins, der Sachsen und der Schweden belagert, und 1634 von den eigenen Machthabern niedergebrannt, damit es nicht in Feindeshand fiel. Verbrannte Erde, nennt man mittlerweile diese Strategie. Am Ende dieses kriegerischen Jahrhunderts fand sich Bautzen unter sächsischer Herrschaft wieder und wurde Hauptstadt des Markgrafentums, da es als einzige Stadt über ein Postamt verfügte. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts wurde die Stadt ein zweites Mal durch einen Großbrand zerstört, der in den Folgejahren das Stadtbild nachhaltig veränderte. Den Befreiungskriegen, kaum hundert Jahre später, zollten auch Bautzen und die umliegenden Dörfer ihren Tribut. Es ist die Schlacht bei Bautzen, 1813, nicht die bei Wurschen, der auf Arc de Triomphe in Paris gedacht wird.
1904 wurde der Bau der Sächsischen Landesstrafanstalt Bautzen mit 1100 Haftplätzen fertig gestellt, die während des nationalsozialistischen und des DDR-Regimes als JVA Bautzen I und Bautzen II traurige Berühmtheit erlangte. Während des Ersten Weltkriegs wurden hier russische, französische und britische Kriegsgefangene untergebracht. Die kurze Zeit der Liberalisierung des Strafvollzugs in der Weimarer Republik setzten die Nationalsozialisten ein frühes Ende. Zwischen 1933 und 1945 arbeitete die Gefängnisleitung von Bautzen I eng mit der Gestapo zusammen. Politische Gegner aus SPD und KPD sowie kirchliche Oppositionelle und Zeugen Jehovas wurden vorzugsweise in dieser Einrichtung inhaftiert. Ernst Thälmann war bis zu seinem Abtransport ins KZ Buchenwald, zwischen 1943 und 1944, Gefangener in Bautzen I. Direkt an der Spree lag das Außenlager des KZ Groß-Rosen in Niederschlesien, im heutigen Polen, wo überwiegend Juden im Waggon- und Maschinenbau Zwangsarbeit verrichten mussten. Nicht unerwähnt bleiben soll, dass Bautzen im Nationalsozialismus Sitz der staatlichen Überwachung des sorbischen Volkes war, der sogenannten Wendenabteilung.
Im Zweiten Weltkrieg wurden große Teile die Stadt zerstört, in der zweiten Schlacht um Bautzen im Jahr 1945. Im letzten deutschen Panzerangriff des Zweiten Weltkrieges eroberten die Nationalsozialisten die Stadt zurück und hielten sie bis zur Kapitulation. Die Kuppel der Michaeliskirche fiel den Auseinandersetzungen zum Opfer, und fast alle Brücken wurden gesprengt. Der Erzengel hatte sich vor dem Grauen des Nationalsozialismus, des Krieges und der vielen Todesopfern unter der Zivilbevölkerung hilflos abgewandt. Nach dem Krieg entwickelte sich Bautzen in der DDR zu einer Wissenschafts- und Industriestadt.
In den 1970er Jahren unterhielt Bautzen I eine vom Ministerium für Staatssicherheit eingerichtete Abteilung für besserungsunwillige Häftlinge, für diejenigen ihrer Bürger, die der DDR kritisch gegenüberstanden und Ausreiseanträge gestellt hatten. Bautzen II war eine Justizvollzugsanstalt besonderer Art. Sie unterstand dem Ministerium für Staatssicherheit, ein Hochsicherheitstrakt mit 200 Haftplätzen für politische Sondergefangene, der Stasi-Knast. 1989 wurden alle politischen Gefangenen freigelassen, die Anstalt einige Jahre später geschlossen und in die Gedenkstätte Bautzen umgewandelt.

Auf schmerzenden Füßen streife ich kreuz und quer durch die Stadt. Bautzen ist ein Museum, mit Info-Tafeln gut ausgestattet. Ich weiß nicht, was ich mir zuerst ansehen soll, also lasse ich mich durch die Straßen und Gassen der Altstadt treiben, und sammele ein, was ich unterwegs finde.

Überall werden Bühnen für das kommende Stadtfest aufgebaut. Die Stadt verharrt in Erwartung des kommenden Ansturms. Das Stadtbild wirkt anders als in Görlitz; weniger verfallen, der historische Bestand besser bewahrt. Mittlerweile ist Görlitz wieder eine schöne Stadt, die Innenstadt an der Neiße, frisch saniert und prächtig anzusehen. Die Verantwortlichen der DDR gaben Görlitz dem Verfall preis. In Bautzen scheint dies nicht der Fall gewesen zu sein. Nach der Wende kam ein anonymer Spender, ein Sohn der Stadt, wie ihn am Morgen Frau Wujanz nannte. Er gab der Stadt jährlich eine Million für die Sanierung; zuerst in DM, dann in Euro. Die restlichen Mittel kamen von der Stadt und dem Land Sachsen. Die beiden historischen Altstadt sind ein Juwel. Warum Prag, wenn doch Bautzen und Görlitz ähnliches bieten, nur viel entspannter: kein Massenbetrieb, kein Geschiebe über den Altstädter Ring oder über die Karlsbrücke zum Hradschin. Ich bin gespannt auf Kamenz, die nächste Stadt des ehemaligen Oberlausitzer Sechs-Städte-Bunds. Bautzen ist zu gewaltig für die wenigen Stunden, die mir bleiben. Ich bekomme nur einen ersten Eindruck, kaum ausreichend für die Vielfalt und das städtische Leben der sorbischen Metropole. Es erstaunt mich immer wieder neu, dass auch Städte ein Schicksal habe, das sich durch die Jahrhunderte hindurch in ihrer historischen und kulturellen Gestalt spiegelt. Bautzens Schicksal scheint die Angst zu sein, seine Identität zu verlieren; verständlich angesichts einer Geschichte in der die Bevölkerung sich mit wechselnden Fremdherrschaften konfrontiert sah. Irgendwann werde ich wiederkommen.

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