Ich nehme Abschied von Astrid und Allan, meinen Mitpilgern, mit denen ich mir das Petri-Zimmer in Bautzen geteilt habe. Jede Begegnung, die unsere Seele berührt, hinterlässt eine Spur, die nie ganz verweht, eine Sentenz von Lore-Lillian Boden, nehme ich als Leitmotiv für diesen Wandertag. Die beiden stehen gerade auf, als ich aufbreche. Unten auf dem Hof kommt ein Offizieller mit dem Fahrrad zur Arbeit. Er spricht mich auf die beiden an, und regt sich darüber auf, dass sie zwei Tage in der Herberge übernachtet haben. "Das geht nicht," ereifert er sich, "ich bekomme Schwierigkeiten mit den gewerblichen Anbietern. Unsere Pilgerherberge ist kostenlos und jeder hier weiß, dass sie nur für eine Nacht genutzt werden darf." Ich murmele etwas von Bautzen sei doch viel zu schön für einen Tag, und ziehe meines Wegs. Ich habe selbst mit dem Gedanken gespielt, einen Tag länger zu bleiben.
Auch heute finde ich den Pilgerweg nicht gleich und muss mehrmals fragen, bevor ich schließlich auf dem richtigen Weg Bautzen verlasse. Ich werde in verschiedene Richtungen geschickt, laufe den Berg zur Altstadt gleich mehrfach hinauf und hinunter. Zwischen Spree und äußerer Stadtmauer verlasse ich die Stadt. Am Stadtrand treffe ich unerwartet meine Pilgerfreunde wieder, die an einer Kreuzung stehen, und ihre Karte befragen. Ein kurzes Hallo, und jeder zieht seiner Wege. Ich gehe die langsam ansteigende Straße nach Salzenfurt voraus, die aus Bautzen herausführt. Schon bald habe ich Astrid und Allan, die hinter mir zurückbleiben, aus den Augen verloren.
Salzenfurt ist ein Straßendorf an einer Kiesgrube, wo der Pilgerweg die
Landstraße verlässt. Am Friedhof, der außerhalb des Ortes liegt,
lasse ich mich auf einer Bank in der Sonne nieder. Meine Mitpilger
sind verschwunden, überholen mich nicht, und ich wundere mich, wie
lange die beiden brauchen, mich einzuholen. Haben sie Probleme,
abgebrochen oder ein Auto angehalten? Sie bleiben für die nächsten
Stunden verschwunden.
Bis
zum Millenniumsdenkmal
lege ich Schritt für Schritt auf asphaltierten Straßen durch
kleine Dörfer und vorbei an Feldern zurück, deren Monotonie mich langweilt.
Die gesamten acht Kilometer bis ans Denkmal bringe ich wie
ferngesteuert und ohne Pause hinter mich. Später erinnere ich mich
an kaum etwas. Die letzten Kilometer gehe ich die Straße auf einen Hügel hinauf, das
immer größer werdende Denkmal ständig vor Augen. Die Skulptur der beiden heilig gesprochenen
Missionare der Slawen, die auf einem rechteckigen Sockel stehen,
rückt näher und näher, bis sie weit in den Raum hinaus greifend
über mir aufragen. Oben angekommen steuere ich die einzige Bank im
Schatten an, und lege den Rucksack ab, einschließlich Schuhe und Strümpfe, und lüfte meine heißen Füße.
Eine längere Pause, ein Imbiss, ein Nickerchen auf der Bank. Mehrmals kommen Besucher, werfen einen kurzen Blick auf das Denkmal und fahren weiter. Ein Mann kommt zu Fuß, in kurzärmeligem Hemd, eine Mappe unterm Arm, gibt sich geschäftig, inspiziert die Umgebung des Denkmals gründlich. Er vermutet in mir einen Pilger, ruft mir von weitem ein Buen Camino zu und ist gleich darauf verschwunden. Kurze Zeit später sehe ich von meiner Bank, wie er die Allee nach Crostwitz hinunter geht. Schließlich kommen auch meine Mitpilger im Gänsemarsch den Hügel hinauf, kämpfen sich die letzten Meter zum Denkmal hoch. Ein kurzes Hallo, ein gegenseitiges Fotografieren vor der Infotafel, ein Blick aufs Denkmal, und schon ziehen sie weiter, während ich noch immer in der Sonne faulenze. Endlich habe ein Mobilnetz. Nachdem mein Sohn mich gestern in Bautzen nicht erreichen konnte, kann ich ihn zurückrufen. Er will mir zum Geburtstag gratulieren, und macht sich Sorgen, weil er nichts von mir gehört hat. Allein zu wandern, meint er, was da alles passieren kann. Sich Sorgen zu machen, das hätte ich eher von meiner Tochter gedacht. Als ich wieder der Einzige auf dem großen Platz vor dem Denkmal bin, schaue ich mir die Anlage an, in dessen Schatten ich die letzte Stunde verbracht habe. Das Denkmal, ein Sockel aus übereinander geschichteten, grauen Steinen, auf dem zwei Männer mit ausgebreiteten Armen stehen, die hinunter nach Bautzen blicken. Auf ihrer rechten Seite ein Altar in Form eines weißes, wuchtiges Kreuzes. Zu Füßen des Denkmals versinken weitere Kreuze im Schotter des Boden. Das Milleniumsdenkmal haben katholische Sorben im Jahr 2000 als Dank für das Geschenk des christlichen Glaubens errichtet. Die aus Kupferblech getriebenen Figuren des Kunstbildhauers Droboslaw Bagínski aus Lubin stellen die Slawenapostel Cyrill und Methodius dar, die im 9. Jahrhundert das Evangelium den Slawen im Großmährischen Reich, zu dem auch die Vorfahren der Sorben gehörten, verkündeten. Sie schufen die slawische Schriftsprache, übersetzten die Bibel und feierten bereits die Liturgie in der Volkssprache. Die alte Handelsstaße, die schon damals über die Anhöhe führte, ermöglichte früh den Kulturaustausch unter den Völkern Europas. Das Denkmal will, so heißt es auf der Info-Tafel, dazu aufrufen, uns auf den Weg zu einem geeinten Europa zu machen und den christlichen Glauben auch im dritten Jahrtausend zu bekennen. Pilgern, oder allgemein zu Fuß durch das Land zu ziehen, besonders fern von Konfession und Dogma, dient ganz unmittelbar der Verständigung der Völker.
Die herausragende Bedeutung der beiden
Missionare veranlasste Papst Johannes Paul II. sie zu Mitpatronen
Europas zu ernennen.
Schon
am Denkmal, unmittelbar an der Landstraße, steht das erste von
vielen vergoldeten oder farbigen Wegkreuzen, an denen ich in den
nächsten Tagen vorbeigehe. Solche Kreuze oder Bildsäulen sind für die katholischen
Sorben charakteristisch.
Bis Storcha, sorbisch Baćoń, nämlich Storch, einer kleinen, fast rein sorbischen Gemeinde, komme ich an weiteren Wegkreuzen vorbei, deren golden glänzende Kruzifixe in der Sonne leuchten. Artefakte der religiös verorteten Landschaft der Oberlausitz. Wegkreuze mit gold glänzenden Kruzifixen oder säulenartige Standbilder. Am Sockel der Kreuze erzählen vergoldet Szenen aus dem Neuen Testament. Farbig gestaltete Bildsäulen, häufig mit einem Heiligen, der hoch oben auf der Säule thront. Diese Säulen erinnern an Stiftungen für eine Rettung aus höchster Not. Alle Kreuze und Bildsäulen stammen aus dem 19. Jahrhundert, befinden sich aber in gepflegtem Zustand, was auf die anhaltende Verehrung hinweist, die sie genießen. Mich erinnern sie an die Bilderstöckchen des Aachen-Kölner-Raums, die dort überall an den Wegen, an Kreuzungen und Feldrainen standen als ich ein Kind war. Magischer Schutzzauber im katholischen Gewand. Manchmal bedauere ich es, dass der Protestantismus dem Katholizismus das Geheimnisvollein den Raum ergossenen Atmosphären, ausgetrieben hat, die die lateinische Liturgie meiner Kindheit noch gefördert hat. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich diese Aura des Raums als unheimliche, in der Luft liegende Stimmung in der Nähe eines balinesischen Tempels erlebt, der zum Kult der Rangga gehörte. An der Fassade der neugotischen Herz-Jesu-Kirche strecken geflügelte Dämonenhunde ihren Kopf aus dem Gemäuer und fauchen die Vorübergehenden an. Apotropäische Symbole, die das Böse mit seiner eigenen Hässlichkeit erschrecken, um dem Schutz des sakralen Raums zu sichern. Aus ihrem Rachen töpfelt Regenwasser.
Die Oberlausitz, besonders zwischen Bautzen und Kamenz, ist das Land der Sorben, oder der Wenden, wie man sie auch nennt. Ethnisch gibt es keinen Unterschied. Den Wenden begegnete ich erstmals in Otfried Preußlers Jugendroman Krabat, der eine Sage, mit heidnischer, indo-europäischer Symbolik aufgreift, die in verschiedenen Versionen vorliegt, und in einem Entwicklungsroman fasst. In Nebelschütz treffe ich Krabat selbst, als steinerne Skulptur, die ihn als einen Mann mit beeindruckendem Schnurbart darstellt. Er markiert den Krabat-Radrundweg (Kolesorwarski pucik), der hier vorbeiführt.
Das Dorf Nebelschütz, oder Njebjelčicy, besteht seit 1304 und hat knapp 2000 Einwohner, von denen zwei Drittel sorbisch sprechen. Der Ort liegt am Schnittpunkt von drei Naturräumen: nach Nordosten erstreckt sich die ebene Oberlausitzer Heide, ein Teichgebiet mit reichem Fischbestand und zahlreichen Angelmöglichkeiten, nach Südosten die flachen Wellen des Oberlausitzer Gefildes und nach Westen das Westlausitzer Hügel- und Bergland. Ursprünglich gehörte das Dorf den begüterten Herren von Kamenz. Auch das sächsische Adelsgeschlecht der von Metzradt, die zum Oberlausitzer Uradel gehören, soll zeitweise Besitzer von Nebelschütz gewesen sein. Die Zisterzienserinnen des nahegelegenen Klosters Sankt Marienstern gehörten ebenfalls zu den Nutznießern der landwirtschaftlichen Produktion von Nebelschütz, das ihnen von Beginn des 16. Jahrhunderts bis zur Ablösung der Grundherrschaft 1832 ganz gehörte. Nur aus diesem Grund ist die Bevölkerung des Ortes während der Reformationszeit katholisch geblieben. Mitten im Ort, unmittelbar an der Via Regia, steht die hüfthohe Steinskulptur des Krabat, eine in den sorbischen Landen populären Sagengestalt; durch den Roman von Otfried Preußler und einer aktuellen Verfilmung von Marco Kreuzpaintner inzwischen weit über die Oberlausitz hinaus bekannt. In den ältesten Versionen der Sage, etwa bei dem sorbischen Volkskundler Joachim Leopold Haupt, ist Krabat noch der böse Herr von Groß-Särchen. Eine Info-Tafel in Nebelschütz verrät dem neugierigen Passanten ein interessantes Detail der Krabat Überlieferung: Krabat machte sich eines Abends eilig mit seinem Pferdegespann von Särchen in Richtung Dresden zum Schloss des Kurfürsten auf. In Dringlichkeit ließ er seine Kutsche mitsamt Pferden über die Wolken reiten und überquerte dabei Nebelschütz bis hin nach Kamenz; ein Motiv, das unverblümt auf das Geisterheer der Wilden Jagd anspielt, oft angeführt von Óðinn-Wodan in seiner Rolle als Psychopomp, der die Seelen unvorsichtiger Wanderer einsammelt. Man erzählt sich auch, dass Krabat auf seinem Weg nach Dresden an der Kirchturmspitze der Hauptkirche von Kamenz, St. Marien, mit seiner Kutsche im Flug hängengeblieben ist, die seitdem etwas schief ist. Im Verlauf der volkstümlichen Überlieferung, sicher auch durch das Bemühen des Christentums, heidnische Bräuche zu akkulturieren, wird Krabat immer mehr zu einem Eulenspiegel, allmählich zu einem guten Herrn, der seine Künste zum Nutzen der Menschen oder zum Schabernack einsetzte. In den Sagenrest der Krabat-Überlieferung hat sich ein quasi-historischer Kern eingeschlichen. Der Name soll von Hrvat, südslawisch Kroate abgeleitet sein, und auf einen Reiterobristen namens Johannes Schadowitz zurückgehen, der aus Kroatien stammte: Kurfürst Johann Georg III. von Sachsen hat ihn bei seiner Rückkehr von einem Feldzug gegen die Türken im Jahr 1691 mitgebracht, weil dieser ihn vor der Gefangennahme durch die Türken bewahrt hatte. Zum Dank schenkte der Kurfürst ihm das Gut Groß Särchen vor den Toren der Stadt Hoyerswerda. Im Volksmund wurde er wegen seiner fremden Herkunft, seines Aussehens und seiner Eigenarten als Zauberer angesehen und Krabat genannt.
Otfried Preußlers Jugendbuch Krabat, erschienen 1971, ist nur eine literarische Version dieser sorbischen Sage, die bekannteste einer Gruppe literarischer Bearbeitungen dieses Sagenstoffs mit einer bemerkenswerten Reihe unterschiedlicher Variationen. Preußler schrieb mit Unterbrechungen zehn Jahre an seinem Roman, in dem ein óðinnischer Müller während des Dreißigjährigen Kriegs in der Gegend um Kamenz magische Manipulationen vornimmt. Als Vorlage diente ihm nicht nur die sorbische Überlieferung von dem unheimlichen Müller in der Heidemühle bei Schwarzkollm, Čorny Chołmc, östlich von Hoyerswerda. 1954 veröffentlichte Měrćin Nowak-Njechorński (seit 1958 Martin Nowak-Neumann) den Roman Mišter Krabat (Meister Krabat, der gute sorbische Zauberer), der dieses Thema zum ersten Mal im 20. Jahrhundert für ein breites Publikum in sorbischer Sprache behandelte. Seine Suche nach Wissen führt den armen Betteljungen Krabat, der die Armut seiner Familie lindern will, zu dem Müller, der einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hat. Jedes Jahr muss einer seiner zwölf Gesellen sterben, damit er selbst ewig leben kann. Der Müller unterrichtet Krabat in Schwarzer Magie, der ihn schnell überflügelt. Schließlich stiehlt er ihm sein Koraktor, eingeprägte Schriftzeichen, ein Sammelname für Zauberbücher in den Sagen der Oberlausitz. Am Ende des ersten Lehrjahres flieht Krabat zu seiner Familie. Er vereinbart mit seiner Mutter, dass sie ihm vom Müller freibittet, was ihr auch gelingt. Die Rockband ASP, die ihren Stil als Gothic Novel Rock bezeichnet, hat sich in ihrem Album Zaubererbruder – Der Krabat-Liederzyklus neuerdings der Krabat-Thematik angenommen. In ihrem Song Krabat setzten sie 2008 die Art und Weise des Unterrichts des Müllers der Heidemühle lyrisch ins Bild:
Sein Blick fährt mir durch Mark und Bein
Mit einem Auge nun erfasst er
Dich, du willst vor Angst vergehn
Das andre unter einem Pflaster
Schwarz und kann doch alles sehn
Ich komme mir so schrecklich nackt vor
Zauberspruch um Zauberspruch
Liest er uns vor aus dem Koraktor
Weiße Schrift im schwarzem Buch
Und mir sprießen Rabenfedern
Und so flieg ich unerkannt
Über Grenzen in das Leben
Wie der Wind schnell übers Land
Und ich breche alle Regeln
Um heut Nacht bei dir zu sein
Fühl mein Rabenherz, es schlägt so
Schnell und nur für dich allein
1968 variiert das Jugendbuch Die schwarze Mühle (Čorny młyn) des sorbischen Schriftstellers Jurij Brězan die Version von Nowak-Njechorński nur geringfügig, die er auch ins Deutsche übersetzt hat. In seiner neuen Krabat-Erzählung richtet er den Fokus seiner Bearbeitung ganz auf eine These: Wissen ist Macht und Macht macht frei. Jahre Später, 1976, schreibt Brězan einen zweiten, diesmal fiktiven, von der sorbischen Sage nur noch inspirierten Roman: Krabat oder die Verwandlung der Welt, (sorbisch Krabat), der in obersorbischer und deutscher Sprache erscheint: Der sorbische Biologe Jan Serbin bringt es mit seinen Forschungen zur Genetik zu Weltruhm und erhält für seine Methode, Menschen genetisch so zu verändern, dass sie negative Verhaltensweisen wie Gier und Selbstsucht bis hin zur Bereitschaft zum Führen von Kriegen verlieren, schließlich den Nobelpreis. In seiner Manie, mit genetischen Methoden eine bessere und friedliche Welt zu schaffen, identifiziert sich Serbin mit Krabat. Die fantastischen Motive der Sage vermischen sich mehr und mehr mit seiner wissenschaftlichen Realität, Raum und Zeit des Plots wechseln ständig zwischen realem und fiktionalem Erleben und Handeln des Protagonisten. Die hybride Persönlichkeit Serbin-Krabat reist auf wissenschaftlicher Mission durch Europa oder wandert wie Peter Schlemihl, nur begleitet von seinem Famulus Jakub Kuschk durch die Lande, bekämpft, auf der Suche nach dem Glücksland und seiner verlorenen Liebe, seinen Antagonisten, den Grafen Wolf Reissenberg, der den bösen Müller verkörpert. Ein fantastischer, wissenschafts- und sozialkritischer Roman von der Machbarkeit des Möglichen, der Rechtfertigung der Mittel für jeden Zweck sowie den damit verbundenen ethischen Fragestellungen. Und von der engen Verwandtschaft von Wissenschaft und Magie. Wie oft wohl entsteht wissenschaftliche Forschung, insbesondere die naturwissenschaftliche, aus der Magie, und mündet Magie in Wissenschaft. Kunst ist immer das Medium, worin sich beide spiegeln.
Der Film entdeckte das lukrative, von der Literatur breit gefächerte und gut etablierte Sujet bereits 1975 mit dem DEFA-Film Die schwarze Mühle. 1977 und 2008 erschienen zwei weitere Krabat-Filme. Besonders die aktuelle Version dieser Sage, inszeniert von Marco Kreuzpaintner, mit Otto Sander als Erzähler, fand eine weite Verbreitung auf der bundesdeutschen Kinoleinwand. Wie immer bei literarischen Verfilmungen fand auch Kreuzpaintners Film ein vielschichtiges Echo. Während es Otfried Preußler gelang, in dem Film seinen Protagonisten wiederzuerkennen, konnte der Rezensent der FAZ der Verfilmung nichts Gutes abgewinnen. Er kritisierte die mangelnde psychologische Dichte und Komplexität der Charaktere der Buchvorlage. Das Lexikon des Internationalen Films sowie die Filmbewertungsstelle Wiesbaden sprechen von einem Meisterwerk, das die düsteren Züge von Nosferatus Grauen thematisiert, von starkem ästhetischen Willen geprägt ist und ein bedrückendes Abbild gesellschaftlicher Verhältnisse zeigt, in denen sich die Menschlichkeit gegen die Versuchungen dunkler Mächte behaupten muss. Die indo-europäische mythologische Wurzel der Krabat-Sage, der Konflikt Zeus-Prometheus, der sich in der Beziehung von Krabat und dem Müller spiegelt, insbesondere der Raub von Feuer oder Zauberbuch, bleibt dabei unbemerkt. Wie Prometheus ist Krabat ein Menschfreundlicher, dessen ambivalente Motivation, wie Jan Brězans Version am deutlichsten schildert, dem Wohl einer leidenden Menschheit gilt. Das Licht-und-Schatten-Motiv der Krabat-Versionen ist universell. Denn der griechische Zeus ist niemand anders als der nordische Wodan oder Odin. Die Implikationen aufzuführen, die auf eine Initiation in einen kultischen Männerbund hinweisen, verbunden mit dem Motiv der zwölf Raben, führt viel zu weit.
Die Sorben zwischen Bauzten und Kamenz sind ihren Traditionen verbunden, fundamentalistisch und strenggläubig katholisch. Ihr Katholizismus ist getragen von einer eigenen, slawischen Sprache, ihren Überlieferungen und vitalen Trachten, insgesamt kulturelle Elemente, die ihre katholische Frömmigkeit fest im Alltag verankern. Eines dieser Elemente isoliert zu betrachten, ist für sorbische Traditionalisten überhaupt nicht vorstellbar. Es handelt sich nämlich nicht um verschiedene Phänomene, sondern um eine Einheit in der Vielfalt. Der innige Zusammenhang von Sprache, Tracht und Religion, als Brennpunkt und Marker ihrer ethnischen Identität, hat das Überleben dieser Minderheit, durch ständige Anfeindungen hindurch, zuletzt auch durch das System der DDR, überlebt. Aktuell, so höre ich in den Dörfern immer wieder, erlebt das Sorbische in der Oberlausitz eine Renaissance. Selbst nicht-sorbische Eltern fördern ihre Kinder bilingual.
Die Via Regia bleibt auf asphaltierten Wegen und Landstraßen, durch kleine sorbische Dörfer und noch kleinere Weiler nach Crostwitz. Zusammen mit fünf anderen Gemeinden ist Crostwitz im Verwaltungsverband Am Klosterwasser (Zarjadniski zwjazk Při Klóšterskej wodźe) organisiert, benannt nach dem kleinen Flüsschen Klosterwasser, Nebenfluss der Schwarzen Elster, der das sorbische Siedlungsgebiet im Landkreis Bautzen nordsüdlich durchquert. Der Name des Flusses, der mit dem katholischen Kloster Sankt Marienstern bei Panschwitz-Kuckau zusammenhängt, weckt Assoziationen an ein geistiges Klosterwasser. Dass es in dieser offenen, weit ausgedehnten Landschaft keine Feld- oder Wirtschaftswege geben soll, kann ich nicht glauben. Der Weg muss sich nicht immer an der ursprünglichen Via Regia orientieren, es geht auch parallel, solange die Richtung stimmt. Autoverkehr gibt es kaum, vielleicht alle zwei oder drei Kilometer ein Fahrzeug. Ich begegne niemandem, der zu Fuß unterwegs ist. Schon von weitem sehe ich die Turmspitze der Hauptkirche Sankt Simon und Juda (Thaddäus) und die ersten Häuser des Dorfes. Crostwitz, sorbisch Chrósćicy, liegt zwölf Kilometer östlich von Kamenz, im Südosten des sorbischen Kernsiedlungsgebiets, gleich am 2003 eröffneten Radweg Auf den Spuren des Krabat. Der Rundwanderweg verbindet auf 92 Kilometern viele Schauplätze der sorbischen Sage miteinander. Er beginnt, ganz der Sage verpflichtet, an der Schwarzen Mühle im Koselbruch bei Schwarzkollm, dort wo die Mühle als Kultur- und Veranstaltungsort nachgebaut wurde.
Crostwitz ist ein lebendiges Zentrum sorbischer Kultur. Über achtzig Prozent der Bevölkerung sprechen Sorbisch. Überall an den Wegen stehen Kreuze, Standbilder und sorbisch beschriftete Ortschilder, Geschäfte und öffentliche Gebäude. Die katholische Prägung der Region ist, erstmal in Crostwitz angekommen, nicht mehr zu übersehen. Zweimal jährlich, im Sommer, veranstaltet die Domowina, der Dachverband Lausitzer Sorben, in Crostwitz das Internationale Folklorefestival Lausitz (Mjezynarodny folklorny festiwal Łužica), auf dem Vertreter von sorbischen Volksgruppen und Minderheiten aus aller Welt ihre Trachten, Lieder und Tänze präsentieren. Andere musikalische Traditionen bevorzugt das seit 1997 jährlich Ende des Sommers stattfindende Nukstock Open Air, dass 2018 zum zwanzigsten Mal stattfand. Das N.O.A. findet auf einer Festivalwiese im benachbarten Nukstock statt, ein regionaler Musikevent im Wacken-Stil mit Metal- und Hard-Rock-Bands, eine kleine, alternative Parallelgalaxis im sorbischen Universum.
In der Nähe von Crostwitz legten Archäologen die Reste einer alten slawischen Burgwallanlage frei, die Kopschiner Schanze. 1225 wurde der Ort als Sitz des Herrn Henricus de Crostiz urkundlich erwähnt. Von den 595 Sorben, die sich in der nationalsozialistischen Volkszählung von 1939 zur wendischen Volkszugehörigkeit bekannten, kamen 364 aus Crostwitz, obwohl dies aufgrund der propagierten Charakterisierung der Sorben als deutscher Stamm ausdrücklich unerwünscht war. In der Region fanden noch schwere Gefechte zwischen der Heeresgruppe Süd, durch einige SS-Verbänden verstärkt, und der 2. Polnischen Armee statt, als anderswo der Zweite Weltkrieg längst entschieden war. Auf einem Hügel erinnert ein Mahnmal an die vielen Opfer. Schon fünf Tage nach Ende der letzten Kampfhandlungen wurde in Crostwitz der sorbische Dachverband Domowina neu gegründet. Sorbisch durch und durch!
Obwohl das Ortsschild schon ganz nah ist, weist eine gelbe Muschel unerwartet nach links auf einen Schotterweg. Der ersehnte Feldweg ist nass, die Schlaglöcher lehmige Miniaturtümpel, frisch gefüllt, von anscheinend heftigem Regen. Zuletzt stehe ich an einem matschigen Trampelpfad. Zur Pilgeroase steht einladend auf einem Schild an der Einmündung auf den schlammigen Pfad, der sich zwischen hohen Hecken hindurchschlängelt. Idyllisch, ein schattiges Beige-grün! Der Schlamm, in den ich gerate, ist tief und klebrig, ein lehmig-toniges Sediment, das zäh an meinen Schuhen klebt, die zentimetertief in die nasse Erde einsinken. Schlagartig bin ich zurück in der Realität, und alle Pilgerromantik verfliegt im Nu. Wäre Unlust greifbar, die Luft um mich herum fühlte sich klebrig an. Nach wenigen Schritten umgibt eine dicke Lehmschicht meine Schuhe wie der Teig einen Apfel im Schlafrock. Abschütteln lässt er sich nicht, es wird rutschig und ich verliere das Gefühl für den Bodens unter den Füßen. Schnell sind meine Hosenbeine bis ans Knie mit hellbraunen Tupfen gesprenkelt. Im ersten Moment lang wundere mich, wie der Weg schlammig geworden ist, die wenigen Regentropfen vom Mittwoch sind bei dieser Hitze längst verdunstet, auch im Schatten einer Hecke. Tiefe Spuren im Schlamm erinnern mich an Astrid und Allan, die kurz vor mir hier durchgekommen sein müssen. Während ich durch den Matsch stapfe, freue ich mich auf ein Wiedersehen. Vielleicht sitzen die beiden schon in der Pilgeroase, bei Tee und Keksen, wie der Pilgerführer verspricht.
In der Pilgeroase geht
es lebhaft zu. Ein herzliches Hallo und Winken, als ich auf die
Herberge zugehe. Es scheint, man habe Angst, ich gehe vorbei, ohne
wenigstens eine Weile zu rasten. Aber ich habe mich längst entschieden,
über Nacht zu bleiben.
Die Pilgeroase ist ein mit Obst, Tee und
Keksen reich gedeckter Tisch unter einem Baldachin. Johannes, ein
Besucher aus Panschwitz-Kukau sitzt erwartungsvoll am Tisch und nimmt
mich gleich in Beschlag; anscheinend hat er auf jemanden wie mich
gewartet. Die Frauen, die im Garten arbeiten, sagen nur kurz Hallo
und fordern mich auf, zuzugreifen. Wenn ich Kaffee will, soll ich mir
den in der Küche kochen. Die Herbergsmutter ist nicht zu
Hause. Sie ist bis Sonntag auf dem Katholikentag in Leipzig. Ich
lasse mich nicht bitten, ziehe die schlammigen Schuhe aus, und setze
mich an den gedeckten Tisch.
Johannes
wundert sich, dass ich bleiben will: Die meisten Pilger gehen weiter
zum Zisterzienserkloster Sankt Marienstern. Doch mir ist nicht nach einem katholischen Nonnenkloster und den religiös getönten Erwartungen,
die damit zusammenhängen. Ich bin nicht konfessionell unterwegs, mir genügen die spirituellen Atmosphären der Landschaft. Johannes
erzählt vom Pilgern, und wie sehr er die Pilger bewundert, die so
weite Wege gehen. "Für mich ist das nichts," fährt er
fort, "mir fehlt die Kondition; und überhaupt." Von ihm
erfahre ich auch den Grund für den schlammigen Weg. Er berichtet von
einem schweren Unwetter am Dienstag. In einer Dreiviertelstunde hat ein sintflutartiger Regen neunzig Liter Wasser pro
Quadratmeter über Crostwitz ausgeschüttet. Die Wassermenge verursachte Erdrutsche und Überschwemmungen. Wasser und Schlamm flossen durch
die Dorfstraßen und bis in die Keller. Haselnussgroße Hagelkörner
gingen auf Crostwitz nieder. Aus Angst vor
Verletzungen trauten sich die Leute nicht nach draußen. Auf den Feldern und in den
Gärten hat das Unwetter die Pflanzen umgeworfen, entwurzelt oder
ganz zerstört. Der Hagel hat auch eins der Kirchenfenster
eingeschlagen.
"Solche Unwetter gibt es seit einiger
Zeit immer wieder." sagt Johannes. "Sie sind regional
eng begrenzt, und werden durch die Hochspannungsleitungen angezogen,
die die Regenwolken umleiten oder aufhalten. Der
Pilgerweg weiter durch die Felder nach Panschwitz-Kukau ist
sicher auch morgen noch nicht begehbar."
Eine
der Frauen ist mit einem entzündeten
Knie in der Pilgeroase gestrandet. Sie ist vor ein paar Tagen mit
einer Gruppe Frauen in Görlitz gestartet, und hat sich überfordert.
Wissend, dass ihr die Kondition fehlt, wollte sie mit dem Tempo der
anderen Frauen mithalten. "Ein Anfängerfehler!", sagt sie. Die andere Frau wohnt als Untermieterin in der Pilgeroase. Sie kümmert
sich um die unglückliche Pilgerin, bis ihre Tochter sie heim ins Erzgebirge holt. Dort lebt sie seit ein paar Jahren, nachdem sie ihre
Selbständigkeit als Altenpflegerin aufgegeben hat.
Bei den beiden
Frauen löse ich mütterliche Gefühle auszulösen. Nachdem Johannes mit
dem Rad ins drei Kilometer entfernte Panschwitz-Kukau aufgebrochen ist,
werde ich königlich versorgt; mit dem ersten frischen Gemüse, Salat aus Nachbars Garten, mit Radler, einem bequemen Platz auf dem Sofa,
und Gesprächen bis spät in die Nacht. Von Umweltfragen, über
Bio-Bauernhöfe, Merkels Flüchtlingspolitik, Rechtsradikalismus und
Rechtspopulismus im ländlichen Sachsen sowie Pegida ist alles dabei.
Auch das Unwetter kommt wieder zur Sprache, und die für mich eigenartige Überzeugung, dass die elektro-magnetischen Felder der Hochspannungsleitungen das Wetter beeinflussen und es regional konzentrieren.
Spät abends kommt Veronika, eine Nachbarin, zu Besuch. Sie ist die
stellvertretende Herbergsmutter, die mich darüber aufklären will,
dass ich mich unter Sorben befinde, und was das bedeutet.
Unter
Sorben! Für mich klingt das, als ob ich in einem fremden Land
mitten in Deutschland gelandet bin. Veronika ist gut vorbereitet, und
wie ich erfahre, bietet sie allen Pilgern ihren Vortrag über die
sorbische Kultur zwischen Bautzen und Kamenz an.
Mit
60 000 Menschen sind die Sorben, beginnt sie zu erzählen, das
kleinste slawische Volk. Vor mehr als 1400 Jahren haben sich ihre
Vorfahren in dem Gebiet zwischen Oder, Elbe und Saale, zwischen
der Ostsee und den deutschen Mittelgebirgen, angesiedelt. Im Zuge
einer radikalen Germanisierung verloren sie im 10. Jahrhundert ihre politische Autonomie, sodass im Laufe der Zeit nur die
Sorben der Oberlausitz ihre Sprache und Kultur bis in die Gegenwart
bewahren konnten. Heute leben die Sorben nur noch in der Oberlausitz
im Freistaat Sachsen sowie in der Niederlausitz in der Region Cottbus
in Brandenburg.
Die
Lausitzer Sorben wurden früher als Wenden bezeichnet, ein ethnischer Name, der sich vom lateinischen Veneti ableitet. Die Römer verwendeten diesen Sammelbegriff für verschiedene slawische Stämme, die
während der Völkerwanderungszeit in den mitteldeutschen Raum
vorstießen. Der Name Sorben geht auf die sorbischsprachige Eigenbezeichnung Serbja zurück. In der Oberlausitz verwendet man ausschließlich diesen
indigenen Namen; während man in der Niederlausitz
die Bezeichnungen Wenden und Sorben gleichbedeutend verwendet.
Unter
dem Einfluss der Entstehung einer bürgerlichen Gesellschaft Mitte
des 19. Jahrhunderts entstand unter den slawischen Völkern ein
Nationalgefühl, dass sich gegen eine zunehmende Assimilierung
wandte. Der
Bund Lausitzer Sorben e.V. - die Domowina - wurde 1912 als Dachverband sorbischer Vereine in Hoyerswerda
gegründet. 1937 wurde er vom NS-Regime verboten und 1945 als
antifaschistisch demokratische Organisation in Crostwitz neu
gegründet.
Um als Massenorganisation anerkannt zu werden, setzte
sich die Domowina für den sozialistischen Aufbau in der DDR ein, was
sich aber als Nachteil für die sorbische Sprache und Kultur erwies.
Mit der politischen Wende 1989 erneuerte sie sich strukturell und
inhaltlich. Inzwischen ist die Domowina ein politisch unabhängiger
und selbständiger Bund Lausitzer Sorben in Deutschland. Ihre
Aufgabe sieht sie in der institutionellen Förderung der sorbischen
Sprache und Kultur. Sie ist heute die Interessensvertretung der
Sorben in Sachsen und Brandenburg mit demokratisch gewählten
Institutionen.
Die
sorbische Lausitz ist eine der größten Trachtenregionen
Deutschlands. Von den ehemals elf regionalen Formen werden
gegenwärtig noch vier Trachten bewahrt: im Norden bei Cottbus, in
der mittleren Lausitz bei Hoyerswerda und Schleife und im Süden in
den katholischen Dörfern westlich von Bautzen, wozu auch Crostwitz
gehört. 2008 war die Tracht für fast 400 Frauen noch die
Alltagskleidung. Für viele der Mädchen und jüngeren Frauen ist sie die Kleidung der religiösen Rituale und Feste sowie ganz
allgemein die Festtagsbekleidung geblieben, sichtbarer Ausdruck
kultureller Identität. Nach dem Untergang der DDR entstand im Rahmen
der Gründung von Heimatvereinen in der Lausitz eine
Trachtenrenaissance.
Hand
in Hand mit den Festen der katholischen Liturgie werden in der
Lausitz abgewandelte, slawische Bräuche heidnischen Ursprungs
bewahrt und selbstbewusst gepflegt, die sich vielfach um die
christlichen Hauptfeste Weihnachten und Ostern oder um den Ablauf
des bäuerlichen Jahres gruppieren. Weit verbreitet sind die Winter-
und Frühlingsbräuche wie die Vogelhochzeit und die wendische
Fastnacht, Osterfeuer und Hexenbrennen sowie das Maibaumaufstellen
und -werfen. Üblich sind immer noch die Erntebräuche wie das
Hahnrupfen, Hahnschlagen, Stoppelreiten und Kranzstechen. Alle diese
Feste bieten einen Anlass für der Tragen der Tracht.
"Gestern,
an Fronleichnam," erzählt eine der Frauen, "zog eine große
Prozession durch das Dorf. Alle Teilnehmer trugen die sorbische
Tracht, besonders die Frauen." Stolz fährt sie fort: "Mit
zwei Bussen sind Touristen aus Köln angereist, um dieses Ereignis
mitzuerleben." Sie zeigt mit ein Video von der Prozession, das sie mit ihrem
Smartphone aufgenommen hat.
Bei mir lösen ihre
Bilder nur unangenehme Erinnerungen aus. Ich denke an meine eigene
katholische Kindheit zurück, an die Fronleichnamprozessionen, die
ich jahrelang in meinem Kommunionsanzug mitgehen musste. Kein
Wunder, dass mir die vielen gelb-weiß gestreiften Fahnen, die ich
heute Nachmittag überall im Dorf gesehen habe, so vertraut
vorgekommen sind.
Die katholische sorbische Lausitz ist ein
relativ geschlossenes Gebiet zwischen Bautzen, Kamenz und
Wittichenau. In diesem Gebiet leben in acht Pfarrgemeinden mehr als
10 000 sorbische Katholiken. Die Alltagssprache in diesen Familien,
in den Kindergärten und Schulen sowie im öffentlichen Leben ist das
Sorbische. Protestantische Gemeinden mit einer überwiegenden Anzahl
an Sorben gibt es nicht mehr.
Das
Sorbische Oberammergau titelten die Zeitungen, als 2005 zum ersten Mal das Passionsspiel der
Crostwitzer Gemeinde im Pfarrgarten uraufgeführt wurde, das alle
zehn Jahre stattfinden soll. Das sorbischsprachige Passionsspiel
brachten damals 220 Darsteller, Chorsänger, Musiker und Helfer auf
die Bühne. In Crostwitz sprach Jesus sorbisch. Dolmetscher sorgten
für Verständigung. Im September 2015 folgte die zweite Inszenierung
in Crostwitz.
Am
Sonntag gibt es eine zweite Prozession. Wie schade, dass ich die
nicht miterleben kann, sagen die Frauen. Eine Bemerkung, die mich
nachdenklich zurücklässt. Aber zu bleiben ist glücklicherweise
keine Option, denn als Pilger darf ich nur eine Nacht in der selben
Herberge bleiben.
Es ist spät geworden. Heute kommt kein weiterer Pilger mehr nach Crostwitz. Wieder bin ich der einzige Gast in einer Herberge, und habe einmal mehr die freie Auswahl zwischen den Zimmern und Betten. Bevor ich schlafen gehe, blättere in einem der Fotoalben, in denen chronologisch Fotos der Pilger dokumentiert sind, die vor mir hier übernachtet haben. Es ist auffällig, wie viele Menschen aus sozialen Berufen Pilger sind; viele interessante Menschen schauen mich von den Fotos an. 2015 übernachteten 264 Pilger und Pilgerinnen in dieser Herberge. Aber heute Abend sind alle Pilger vor und hinter mir auf dem Weg. Ob sich das nächste Woche ändert.
Ich bin schon früh wach, bleibe aber länger liegen, da Veronika erst um neun Uhr kommen kann. Ohne Pilgersegen lassen mich die Frauen nicht ziehen. Maria holt, wie gestern vereinbart, Brötchen. Die Sorben essen Brötchen wie die Rheinländer oder Semmeln wie die Bayern. Berliner Schrippen kennen sie nicht. Die Sonne hat den Himmel inzwischen zurückerobert. Es ist warm und wir frühstücken im Garten. Während Anette Kaffee kocht, decke ich den Tisch. Inzwischen sind auch die Brötchen da, frisch und duftend. Kaum sitze ich am üppig gedeckten Tisch, überrascht Anette mit einer Bitte, die mich einen Augenblick erstarren lässt: „Sprich du das Tischgebet. Zeig mal mich, was du draufhast!“ So ist sie: spontan, direkt und unverblümt, nur einen Moment davon entfernt, dreist zu sein. Die nächste Pilgerprüfung kommt wie immer unerwartet. Später staune ich über mich, dass mir so etwas wie ein Gebet gelungen ist; eins, das alle zufrieden stellt. Frieden, Umwelt und Konsumverzicht sind immer gute Themen, die dazu anregen, die eigene Position zu überdenken. Warum nicht darum bitten? Um die Schöpfung zu schützen, braucht es keinen Gott; dazu muss der Mensch sich schon allein verantwortlich fühlen. Es ist nicht gut, jemanden zu haben, auf den man die Verantwortung schieben kann. Eins der großen Missverständnisse in der Geschichte der Menschheit beginnt mit der Vertreibung aus dem Paradies. Jenseits von Eden, so wird ihm aufgetragen, muss er sich die Erde untertan machen. Es wäre dieser gern zitierten Stelle gut bekommen, die Autoren der biblischen Überlieferung, die Kanoniker, Exegeten und Übersetzer, hätten von Bewahrung und Verantwortung für die Schöpfung gesprochen. Es ist immerhin auffällig, wie viele Kulturen weltweit, die als primitiv abwertet werden, mit der Natur in einem verwandtschaftlichen Verhältnis leben, manche sie sogar als ihren Gott verehren. Umweltprobleme haben diese Kulturen nicht verursacht, und es hilft auch nicht weiter, die Überbevölkerung verantwortlich zu machen.
Anette führt mich während des Frühstücks weiter vor. Sie will unbedingt herausfinden, wie authentisch ich bin. Berechtigt nimmt sie mir den Pilger nicht ab, und ich frage mich, warum das so auffällig ist. In vielem verrennt sie sich, in manchem liegt sie richtig, was mich nachdenklich stimmt. Veronikas Ankunft rettet mich vor Anettes zunehmend peinlichem Kreuzverhör, das mir inzwischen zu persönlich geworden ist. Das Gespräch kehrt zu Unverfänglicherem zurück. Es wird Zeit zu gehen. Die Gastfreundschaft der Frauen beginnt mich zu erdrücken. Ihr Griff hinterlässt schon blaue Flecken. Ich packe zusammen. Von Veronika erhalte ich den sorbischen Pilgersegen und eine Anstecknadel mit dem sorbischen Lindenblatt in den panslawischen Farben blau-rot-weiß. Dann mache ich mich auf, diesen gastfreundlichen Ort zu verlassen. Als ich mich von Anette verabschiede, muss ich mit ihr zu einem Schlager im Radio tanzen. Welch eine seltsame Frau! Was für ein merkwürdiger Abschied! Bevor ich aufbreche, schreibe ich den Frauen einen Gedanken von Maria Ward ins Gästebuch: Du findest den Weg nur, wenn du dich auf den Weg machst. Es ist immer nur der eigene Weg. Es bedarf keiner ideologischen oder konfessionellen, äußeren Regeln für eine Pilgerreise, die nur den individuellen Entwicklungsimpuls verhindern, der im Aufbruch liegt. Der Aufenthalt in der Pilgerherberge Crostwitz hat mir gutgetan. Menschen zu begegnen, die mich kurz und vorbehaltlos in ihr Haus und Leben aufgenommen haben, die mich, den Fremden, so angenommen haben, wie ich bin, uneigennützig und selbstverständlich. Das alles nur, weil ich ein Pilger bin. Eine selten gewordene Geste in dieser materialistisch orientierten Zeit. Beschenkt mache ich wieder auf den Weg. Ein ungewöhnliches Erlebnis: Stunden in einer privaten Pilgerherberge, getragen vom Engagement der Frauen.
Die Feldwege zum nahegelegenen Zisterzienserinnen-Kloster St. Marienstern sind, trotz des Unwetters und Johannes pessimistischer Voraussage, gut begehbar; zwar nass und matschig, aber nicht so sehr, dass ich einsinke.
Nach Panschwitz-Kuckau ist es nur ein Katzensprung. Überhaupt bin ich heute Morgen gut zu Fuß. Die Lausitz im Rücken komme ich durch eine intensiv bäuerlich genutzte, wenig natürlich gebliebene Landschaft. Seit der Gröditzer Skala gibt es keinen Wald mehr. Auch kein anderes landschaftliches Highlight. Doch der Himmel ist blau, und hauchdünne Cirruswolken schmücken malerisch die schwindelnde Höhe. Die Sonne scheint mir warm ins Gesicht.
St. Marienstern ist eine Klosteranlage, die mich an ein anderes Kloster dieses Ordens in Marienthal an der Neiße erinnert. Wo der Feldweg endet, gesäumt von einer Pappelreihe, liegt das Kloster in der Morgensonne. Schon von weitem sehe ich die Spitze der Klosterkirche als Skyline eines vergessenen Ortes in den Morgenhimmel stechen.
Pilgern bedeutet auch, von Kirchturmspitze zu Kirchturmspitze zu navigieren. In der flachen Landschaft sind Kirchtürme eine allgegenwärtige Orientierung und mein ersehntes Ziel, wenn am Nachmittag die Füße streiken. Obwohl ich kaum unterwegs bin, halte ich im Klosterhof die erste Rast des Tages. Ich bin viel zu neugierig, um vorbei zu gehen. Die Bänke sind noch feucht, was meiner Hose nichts ausmacht. Mein Hemd ist bereits nass geschwitzt. Den zentralen Hof der Klosteranlage umgeben eine Kirche und die Wohn- und Wirtschaftsgebäude. Alles gepflegt. Alles sauber. Alles an seinem Platz. Über der Anlage schwebt eine unsichtbare, ordnende Hand, die Lebendiges und Lebloses in einer Form zusammenhält. Ein der Natur abgerungenes Stück Kultur, ein Ensemble, wie es unter allen Lebewesen nur der Mensch erfindet. Ich suche vergebens nach einem Hauch Natürlichkeit. Trotzdem schmiegt sich die historische Anlage harmonisch in die Landschaft. Es muss ihr Alter sein, das dem Betrachter vorgaukelt, es habe sie schon immer hier gegeben. So wirken Klöster auf mich, Schlösser und Burgen. Sie sind die letzten Zeugen einer Zeit, die den Kapitalismus noch vor sich hatte. Jetzt scheint ihre mittelalterliche Fassade, hinter der moderne landwirtschaftliche Praxis herrscht, frisiert. Sie bilden Ausflugsziel und Sehnsuchtsort von Menschen, die sich von der Fremde und der Ferne faszinieren lässt. Wer nicht vom Anderen seiner Kultur träumt, der kommt auch nicht weit herum. Viel ist nicht los auf dem Klosterhof. Gerade kommen die ersten Radwanderer an, und stellen ihre Räder ab. In farbige Trikots mit Werbeaufdrucken gekleidet, den Helm unter dem Arm, klappern sie auf ihren Klickpedalschuhen ungelenk über das Pflaster. Ein paar Familien flanieren im Hof auf und ab. Ihre Kinder laufen herum und schauen in jede Ecke. Besonders der Brunnen mit dem Löwen, vor dem Portal der Klosterkirche, hat es ihnen angetan. Ein paar verspätete Besucher wollen noch in die Messe. Als sie die schwere Türe öffnen, klingt gedämpftes Orgelspiel nach draußen. Ein Aushang informiert über die Zeiten der Messe. Sie ist fast vorüber, aber ich fühle mich im warmen Morgenlicht nicht nach düsteren Gemäuern. Die Schatzkammer mit den besonderen Reliquien ist noch geschlossen. Es gibt keinen Grund länger zu verweilen, und ich breche auf nach Kamenz. Sehr weit komme ich nicht. Ein sonniger Platz mit großen grauen Findlingen verführt mich zur nächsten Rast. Es ist noch nicht Mittag, und ich esse meine restlichen Vorräte auf. Für die fehlenden acht Kilometer nach Kamenz brauche ich nichts mehr zu essen. Noch während ich faul in der Sonne döse, schreckt mich das Klack-Klack der Stöcke meiner Mitpilger hoch, die ohne nach rechts oder links zu schauen, an mir vorbei gehen. Ich bleibe still und schaue ihnen nach, wie sie langsam in der Ferne verschwinden. Erst dann mache ich mich selbst wieder auf den Weg, immer weiter durch Felder und Wiesen, gezeichnet von den Spuren des vergangenen Unwetters. Korn und Gräser liegen breitflächig flach gedrückt auf dem Boden. Immer wieder komme ich an Wegkreuzen und Bildsäulen vorbei, deren Ikonographie ich nicht wirklich verstehe. Ich habe den Eindruck, es werden immer mehr. Ich fühle mich in ein magisches Netzwerk christlicher Symbolik verstrickt, die mich seltsam berührt. Den Weg zurück in die Kindheit gehe ich lieber mit Jean Paul als mit Sigmund Freud. Wem ich diese Bemerkung verdanke, weiß ich nicht mehr. Vielleicht habe ich sie einmal irgendwo gelesen. Auf jeden Fall gefällt sie mir. Vielleicht hängt es auch damit zusammen, dass diese Wegzeichen mir gestern das erste Mal aufgefallen sind. Mittlerweile zieht mein Blick sie regelrecht an. Die Wegkreuze mit dem goldenen Kruzifix scheinen die beliebtesten zu sein. Bei den Bildsäulen sind es die Statuen, die ein auferstandener Christus krönt. Stilistisch erinnern mich die naiven Darstellungen an die Heiligenbildchen, die in den 1950er Jahren in der Volksschule als Fleißkärtchen verteilt wurden; einziges Lob eines zufriedenen Lehrers in einer Zeit, in der Männer nur emotional waren, wenn sie gewalttätig wurden. Ich weiß nicht wie oft ich in meinen ersten Schuljahren geschlagen wurde. Mit Billigung meiner Eltern, die ich nicht davon überzeugen konnte, dass Lehrer nicht immer recht haben. Überhaupt versetzt mich der Katholizismus der Sorben zwischen Bautzen und Kamenz ständig verstörend zurück in meine eigene katholische Kindheit.
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