Es dauert nicht lange, und ich habe meine Mitpilger eingeholt. Bis Kamenz entwickelt sich eine neue Pilgerstruktur: wir gehen voreinander her, eine Weile miteinander, dann wieder hintereinander. Entweder bin ich vorne oder die beiden führen. So geht es bis nach Kamenz, wo ich Astrid und Allan an der Gedenkstätte eines lange verschwiegenen Konzentrationlagers ein letztes Mal treffe. Das KZ im Herrental war jahrelang eine unauffällige Fabrikanlage, in der sich während der NS-Zeit Grauenhaftes abgespielt hat.
Ich setze mich auf eine Bank vor das restaurierte Gebäude mit dem hoch aufragenden Schornstein. 125 aktive Regimegegner wurden in einem Krematoriumsofen verbrannt. Erst 2012 bekannte man sich öffentlich zu diesem Ort des Grauens und wandelte die einstigen Todesräume in eine Gedenkstätte um. Auf mehreren Tafeln sind die Namen der Ermordeten verzeichnet. Die Natur hat den Raum des Schreckens zurückerobert und Jugendliche treffen sich an der Gedenkstätte zu lebendigem Spiel. Ununterbrochen erinnert die schwarze Tafel mit goldener Schrift an das Ungeheuerliche, das sich hier ereignet hat und jahrelang verschwiegen wurde:
Dieser Betrieb war in den Jahren 1944/45 als KZ-Lager eingerichtet.
Die Faschisten verbrannten hier 125 gemordete Widerstandskämpfer.
Angehörige verschiedener Nationen.
Der Kampf dieser Opfer soll uns Vorbild und Verpflichtung sein.
Stolze Worte denke ich, ein Appell zu Vorbild und Verpflichtung, zu Zivilcourage. Wie hätte ich mich damals verhalten? Wie trete ich rechtsradikalem oder staatlichem Terror entgegen, der Menschenrechte und demokratische Freiheiten bedroht? Und wie verwandt ist der rigide fundamentalistische Katholizismus mit autoritären politischen Systemen? Eine nicht nur rein theoretische Frage, der man sich immer wieder stellen muss. Wieder nur ein kleiner Small Talk mit meinen Mitpilgern, die sich zu zweit genug sind. Er ist wirklich der Däne, von dem man mir in Nechern erzählt hat. Allerdings lebt und arbeitet er mit seiner Partnerin in Bremen. Beide sind alte Hasen auf den Jakobswegen in Spanien und Deutschland, wie sie sagen. Aber die kurzen Treffen reichen nicht für viel Persönliches, und es zieht uns immer schnell wieder weiter.
Der Tag ist heiß geworden. Mein Schweiß fließt in Strömen. Mein Hemd ist schon lange wieder durchnässt, und die Hose inzwischen feucht. Astrid und Allan haben es eilig. Sie wollen weiter nach Schwosdorf, und morgen Abend mit dem Zug zurück nach Bremen fahren. Wenn ich morgen früh aufbreche, und sie lange schlafen, treffe ich sie vielleicht zum allerletztes Mal. Ich bleibe in Kamenz. Ich will mir die Stadt anschauen, die fünfte des Oberlausitzer Sechs-Städte-Bunds, die ich inzwischen besucht habe. Aber zunächst muss das Gepäck vom Rücken, denn das Gewicht hat sich durch den mittlerweile eingekauften Proviant erheblich zugenommen.
Gottfried Ephraim Lessing erblickte 1729 in Kamenz das Licht der Welt. Noch bevor ich die Stadt wirklich wahrgenommen habe, erzählt sie mir stolz von ihrem berühmten Sohn. Nördlich der Altstadt, gegenüber der 1510 errichteten Klosterkirche St. Annen, befindet sich eine Lessing-Gedenkstätte; am Ort seines Geburtshauses. Ein Transparent überspannt luftig die Hauptstraße, als ich die Stadtgrenze passiere. Doch die Stadt ist an diesem Samstagnachmittag ausgestorben. Autos fahren an mir vorbei, und bis auf ein paar Touristen bin ich der einzige Fußgänger. Kamenz heute Abend zu erkunden, kann eine einsame Angelegenheit werden.
Die Lessingstadt Kamenz, obersorbisch Kamjenc, Kleiner Ort am Stein, ist eine Große Kreisstadt im Landkreis Bautzen in Sachsen. Sie liegt etwa 40 km nordöstlich von Dresden, in der westlichen Oberlausitz, am Fuße des Hutberges, im Naturraum Westlausitzer Hügel- und Bergland. Die Region bildet die Nahtstelle zwischen der flachen Teichlandschaft im Norden und dem Lausitzer Bergland im Süden. Der Deutschbaselitzer Großteich (Pazličanski wulki), eine der größten Wasserflächen auf Kamenzer Gebiet, entstand zwischen 1532 bis 1542 durch die Stauung der Jauer, eines Nebenflusses der Schwarzen Elster. Im Norden ist die Landschaft von flachwelliger Heide geprägt, die nach Süden hin relativ rasch ansteigt und im Ortsteil Hennersdorf bereits Mittelgebirgscharakter zeigt. Von Süden kommend und sich im Stadtgebiet mit einigen weiteren kleinen Bächen, wie dem „Langen Wasser“, vereinigend durchfließt die Schwarze Elster Kamenz in Richtung Norden.
1225 wurde Kamenz zum erstenmal urkundlich erwähnt. Ab 1319 war Kamenz eine freie Stadt. Ende des 12. Jahrhunderts entstand eine Burg zur Sicherung des Übergangs der Via Regia über die Schwarze Elster; dort, wo sich jetzt die Altstadt ausbreitet. Die Via Regia, oder Hohe Straße, war schon damals ein bedeutetender Handelsweg, der Schlesien mit Belgien verband. Zusammen mit Kamenz gründeten 1346 fünf andere Städte den Oberlausitzer Sechsstädtebund, mit Kamenz im Westen des Einflussgebiets. Der Bund der Städte Bautzen, Görlitz, Zittau, Lauban, Kamenz und Löbau war ein lockeres politisch-ökonomisches Bündnis ohne ausgeprägte Hierarchie, obwohl Bautzen und Görlitz wegen ihres Reichtums höheres Ansehen und größeren Einfluss auf die Entscheidungen besaßen. Die politische und wirtschaftliche Bedeutung des Bundes in der Region äußerte sich in der Ausrichtung von Städtetagen, auf denen Angelegenheiten des Landfriedens der ständischen Politik und der Regelung von Konflikten der Städte untereinander und mit Dritten verhandelt wurden. Der Einfall der böhmischen Gotteskrieger, der Hussiten, die 1492 in die Oberlausitz einfielen, das Land verwüsteten und Kamenz belagerten und einnahmen, löste den Bündnisfall aus, als sie schließlich gegen Butzen zogen. Fünfzig Jahre später büßte die Stadt im Oberlausitzer Pönfall wichtige Rechte durch die Bestrafung eines schweren Fehlverhaltens (lat. poena, Strafe) ein. Die überwiegend evangelischen Stände der Oberlausitz weigerten sich im Schmalkaldischen Krieg Kaiser Karl V. gegen ihre Glaubensgenossen zu Felde ziehen. Ihr Ungehorsam der kaiserlichen Forderung gegenüber trug ihnen den Verlust aller Stadtprivilegien, den Entzug der städtischen Gerichtsbarkeit und der freien Ratswahl, die Abtretung aller städtischen Landgüter an die königliche Kammer, die Ablieferung aller Waffen, die Einführung einer ewigen Biersteuer sowie ein Strafgeld in Höhe von 100 000 Gulden ein. In beide Weltkriege war die Stadt einbezogen, im ersten als Hauptquartier des Königlich Sächsischen Reserve-Infanterie-Regiment 242, im zweiten seit 1944 als Standort des KZ Groß-Rosen im Gebäude der stillgelegten Tuchfabrik Noßke und Co., Herrental Nr. 9, unter dem Tarnnamen Elster GmbH.
Im Süden der Altstadt haben sich Fragemente der mittelalterlichen Stadt- und Klosterbefestigung erhalten. Doch ich bin westwärts unterwegs, wo am äußersten Rand der Stadt der Hutberg liegt, mit einer Freilichtbühne für 10 000 Zuschauer. Es dauert, bis ich die Hutbergstraße gefunden habe. An ihrem oberen Emde soll es eine Pilgerherberge geben. Als ich die Straße endlich gefunden habe, und sehe, wie steil sie bergwärts ansteigt, gefällt mir die Idee, in Kamenz zu übernachten, plötzlich nicht mehr. Eine Alternative gibt es so spät am Nachmittag nicht, und so steige ich, zusätzlich proviantbepackt, in der prallen Sonne 400 Meter den Berg hinauf. Wieder einmal bin ich der einzige Fußgänger; ein paar Autos kommen mir von oben entgegen. Waum gehen so wenig Menschen zu Fuß? Ob sie sich ohne ihr Auto nackt fühlen? Vom Wegrand grüßt Heino im zünftigen Metaller-Outfit und ungewöhnlichem Motto: Schwarz blüht der Enzian.
Am 2. Juni gibt er ein Konzert auf der Hutbergbühne - leider ohne mich, denn dem verwandelten Heino hätte ich gerne zugehört. Im Alter lässt sich der Sänger von Volksliedern und Schnulzen auf ein interessantes Experiment ein: er vermischt seine Weisen mit denen des Heavy Metal und des Hard Rock, wird von Rammstein protegiert und in Wacken gefeiert.
Der steile Weg auf den Berg ist die abschließende Strapaze des Tages. Oben angekommen, stehe ich in einem Biergarten, bevölkert von Ausflüglern auf einem verspäteten Samstagnachmittag-Spaziergang. Ich bin mit meiner Entscheidung zu bleiben schnell ausgesöhnt, und verschiebe die Besichtigung von Kamenz kurzerhand auf irgendwann. Die ersten anderthalb Liter des Mineralwassers, das ich gerade erst eingekauft habe, sind dem Aufstieg zum Opfer gefallen. Doch im Biergarten gibt es reichlich von dem, was der Name verspricht. Der Anstieg hat sich gelohnt. Die Pilgerherberge befindet sich in der ehemaligen Wohnung des Türmers im Lessingturm - ein Schlafzimmer mit mehreren Betten, eine Küche, Toilette und ein Meditationsraum. Eine gute, wenn auch dunkle und muffig riechende Unterkunft mit einem grandiosen Panoramablick über das Mittelgebirge der Lausitz, das mich an den Taunus erinnert, wo ich einst sehr glücklich gewesen bin. Ich verbringe einen schönen Abend im Freien. Im orange-roten Schimmer des Sonnenuntergangs trinke ich Landskron-Pils, flaniere auf schmalen Wegen rund um den Turm und schreibe Tagebuch. Etwas abseits des Lessingturms finde ich eine Variante des Pilgerwegs. Die steile Hutbergstraße gehe ich morgen nicht hinab, und die Besichtigung von Kamenz kommt über den Vorsatz nicht hinaus. Morgen nehme ich den Weg durch den Wald den Berg hinab nach Königsbrück. Wie es aussieht, habe ich das Türmerhaus heute Nacht für mich. Niemand ist verrückt genug, bei dieser Hitze auf den Hutberg zu steigen? Als es beginnt zu dunkeln, verschwinden die Ausflügler nach und nach nach Hause. Der Hutberg versinkt in eine tiefe Stille, die sich in den dicken Mauern des Turms auf mich legt wie eine dunkle Decke.
Ich kann nicht, alle Gedanken, Gefühle und Eindrücke aufschreiben, die während einer Wanderung kommen und gehen. Sie sind an ihren Ort und an ihre Zeit gebunden. Ein paar Schritte später werden sie von anderen Impressionen abgelöst. Neue Wahrnehmungen, Erinnerungen und Faszinationen schieben sich ungefragt an ihre Stelle. Ein fließender Prozess der Verdrängung und Erneuerung. Nicht alles, was die Natur, die Landschaften und Begegnungen, mir geben, nicht alles, was mir unterwegs, auf Schritt und Tritt, einfällt, zustößt und zufällt, hat Beständigkeit. Ein Land ist nicht nur seine Landschaft, es ist auch seine Geschichte. Wenn die alten Namen verschwinden, gehen die Geschichten mit ihnen verloren. Die neuen Namen rufen keine Erinnerung an die Vergangenheit mehr wach. Ich sollte mein Tagebuch in Schritte gliedern, nicht in Kapitel. Die Kontinuität, der emotionale und mentale Flow des Gehens bleibt erhalten. Er erinnert im Vorübergehen an die Vergänglichkeit jeder Existenz. Sicher, es wäre schön, doch es ist nicht realistisch, denn unterwegs fehlen dazu Zeit und Gelegenheit. Am Abend sind viel zu oft unterschiedlich vage Erinnerungen ohne ihren Kontext übriggeblieben, die ihren Weg aufs Papier finden. Würde ich unterwegs ständig innehalten, den Rhythmus des Gehens unterbrechen, meine Aufmerksamkeit auf konkrete Details richten, mein Notizbuch hervorholen, um in die Welt des Schreibens eintauchen, das ganzheitlich leibliche Erlebnis einer Wanderung zerfiele in seine Einzelteile: sinnlich und kognitiv, emotional und mental, innen und außen, profan und sakral. Es wäre eine seltsame Fußreise, die sich nicht mehr vom Schreiben unterscheidet. Zu intensive Reflexion schadet dem leiblichen Spüren, denn die Gedanken schneiden die sinnliche Wahrnehmung von ihrem Gegenstand ab. Jakob von Uexküls Merkwelt und Wirkwelt zerfielen in zwei getrennte Hälften. Viele Eindrücke und Begebenheiten verlieren ihre holistische Qualität; gehen unwiderruflich verloren. Beim Gehen des Schreibens wegen innezuhalten, eine schlechte Wahl. Was ich zu Fuß gehend denke und fühle, all die Imaginationen und Inspirationen des Unterwegsseins, verschmelzen in meiner Stimmung, tönen die Atmosphären der Landschaft, und machen den einen besonderen Gang aus. Im Gehen spüre und erfahre ich mich, physisch und psychisch, Schritt für Schritt. Die Flüchtigkeit der Eindrücke, Augenblick nach Augenblick vorüberziehend, verdichten sich zu einem Panorama des Loslassens. Das Glücksgefühl stellt sich erst ein, wenn Gefühle und Gedanken zu fließen beginnen, sich innere und äußere Welt, Leib und Geist, miteinander verbinden. In seltenen orgastischen Momenten Einswerden mit der Welt, die uns umgibt – im Gehen. Am Ende des Tages haben sich alle diese Eindrücke und Atmosphären zu einem einzigartigen Gesamteindruck gestaltet. Die Ernte des Gehens!
Morgens liegt der Hutberg einsam und verlassen in der zögernden Morgensonne. Ausgeschlafen, gut gefrühstückt, die frischen Vorräte von gestern aufgegessen, mache ich mich mit leichterem Gepäck wieder auf den Weg. Die Nacht hat das bunte Treiben der Ausflügler ausgelöscht. Die Verkaufsbuden, an denen gestern Gedränge herrschte, zeigen mir ihre leeren Fassaden und sind verschlossen. Das Amphitheater der vielen Bänke und Tische gähnt verlassen zu mir herauf. Im Schatten des Turms liegt morgendlicher Dunst über dem Berg, den die schüchterne Sonne noch nicht aufgelöst hat. Die friedliche Stille des Ortes breitet sich als ruhig verströmende Welle in mir aus. Ohne den Morgengesang der Vögel und das Rauschen der leichten Brise in den Baumwipfeln wäre sie absolut. Technische Geräusche und die Unruhe versammelter Menschen fehlen. Doch in der Natur ist es nie ganz still. Ich bleibe noch einen Augenblick und lausche den Naturgeräuschen, die eine eigene Art der Stille sind. Mein Lohn für die gestrige Mühe, am Ende des Tages, müde und lustlos, die steile Hutbergstraße hinaufgestiegen zu sein.
Der Aufbruch beschenkt mich mit einer Abkürzung durch den Wald. Wenn du an eine schwierige Stelle kommst und alles gegen dich läuft, so dass es dir scheint, als könntest du nicht eine Minute länger standhalten, dann gib niemals auf; denn das ist gerade der Ort, wo die Gezeiten wechseln. Ich liebe diesen Gedanken der US-amerikanischen Schriftstellerin Harriet Beecher Stowe, erklärte Gegnerin der Sklaverei und Autorin von Onkel Toms Hütte, ein Lieblingsbuch meiner Jugendjahre. Sie schreibt von der hybriden Zone, in der der Übergang gelingt. Transition! Durch den feuchten, nach Erde duftenden Wald gehe ich hinunter nach Kamenz, das Morgenlied der Vögel im Ohr, zufrieden, gestern nicht aufgegeben zu haben. Wenn Gefühle und Gedanken mit meinen Schritten mithalten, mein Leib im Takt und Rhythmus der Schritte schwingt, finde ich meine Mitte. Jeder Schritt schiebt den Weg ein wenig weiter hinter mich zurück. An der westlichen Bergflanke finde ich zurück auf die Via Regia, die durch Felder und Wiesen nach Schwosdorf führt. Ich denke an Astrid und Allan, und hoffe, sie noch einmal zu treffen. Sie haben im Ort übernachtet, sodass meine Chancen gutstehen. Ich lege eine Rast ein, döse eine Weile in der Morgensonne am Wegrand, und trockne die noch feuchte Kleidung, die ich gestern Abend noch gewaschen habe. Aber ich warte vergebens. Die beiden kommen nicht vorbei. Nur ein kleiner, herrenloser Hund steht, wie aus dem Nichts aufgetaucht, plötzlich vor mir und kläfft mich an, als ob ihm das ganze Dorf allein gehört. Entspannt und zufrieden sitze ich im Schatten. Mich überkommt die Lust, nicht mehr weiterzugehen, zu bleiben und das angenehm müßige Gefühl zu halten, nicht wieder pausenlos zu schwitzen, zu trinken, zu schwitzen, den ganzen Tag lang. Ein verführerischer Augenblick, den ich einen Moment verliebt genieße. Wenn ich bleibe, meldet sich eine skeptische innere Stimme, muss ich morgen zehn Kilometer zusätzlich gehen, und noch mehr schwitzen. Gleich verliert der Gedanken an eine längere Pause in Schwosdorf jeglichen Reiz. Es macht keinen Sinn: heute zu faulenzen und mich morgen zu überanstrengen.
Inzwischen ist es wieder heiß geworden. Ich schultere mein Gepäck und mache mich auf den Weg nach Reichenau. Der kleine Ort präsentiert sich als Tiefbaustelle. Die Hauptstraße durch den Ort ist aufgerissen. Am grünen Graben des Mühlbachs laden Tisch und Bank zu einer Rast ein, die ich mir nicht entgehen lasse. Auf der gegenüberliegenden Seite bietet ein gewitzter Handwerker handgefertigte Pilgerstöcke an. Geschäftstüchtig! Einer, der sich die Gelegenheit häufig vorbeikommender Pilger nicht entgehen lässt. Vermutlich benutzte schon Ötzi einen solchen Knotenstock, eine Schäferschippe oder mannshohen Wanderstab. Stockwandern mit zwei Teleskopstöcken. Das ist neu! Meine High-Tech-Wanderstäbe sind nicht handgefertigt. Sie sind auch nicht aus Holz. Sie sind ein technisch perfektes Produkt: Nordic-Walking-Stöcke. Der finnische Trainer Mauri Repo war der erste, der Nordic Walking 1979 als Sportart definierte. Wanderer und Skilangläufer benutzen das Stockwandern (finnisch sauvakävely) schon Jahrzehnte bevor Repo es als Trainingsmethode für den Sommer-Trainingsplan der Skilangläufer einführte. 1997 stellte die finnische Firma Exel die ersten Gehstöcke her und brachte sie auf den Markt. Der Fachterminus Nordic Walking entstand 1999 und wurde im gleichen Jahr durch ein Werbeflugblatt international bekannt. Während ich auf der Bank im Schatten sitze und dem Mühlbach beim Fließen zuschaue, überkommt mich ein romantisches Gefühl. Ich sehe mich mit Hut und Pilgerstab aus Holz, der mir bis über den Kopf reicht, die Straße entlang gehen, wie in Luis Buñuels Film Die Milchstraße. Das Gefühl bleibt einen Moment, dann bin ich froh, mich für ein technisches Produkt entschieden zu haben. Wenn überhaupt, dann will ich ein moderner Pilger sein.
Trotz meiner Stöcke komme ich heute nur langsam voran. Nicht weil ich müde bin, oder der Rucksack zu schwer ist. Es liegt an dieser seltsamen Stimmung, die schon den ganzen Tag in mir lauert. Die Einsamkeit, sie schmerzt. Ich finde aus Reichenau nicht heraus, verwechsele die Muschel zur Herberge, gelbes Haus auf blauem Grund, mit der Wegmarkierung: gelbe Muschel mit gekreuzten Stäben. Ich probiere mehrere Straßen aus, aber alle führen in die falsche Richtung. Eine Geburtstagsgesellschaft im Heimathaus Reichenau, in die ich ungebeten platze, hilft mir schließlich auf den Weg. Die Männer und Frauen, die um einen gedeckten Tisch stehen und ein Lied singen, kommen aus dem Takt und schauen verblüfft zu mir herüber. Ich verhaspele mich, brauche einen Moment, bevor mir wieder einfällt, warum ich in der Tür stehe.
In der Westlausitz heißt die Via Regia die Hohe Straße oder die Alte Poststraße. So nannte man sie nach dem Verfall der königlichen Zentralgewalt, als die Straße keinen geschützten Rechtsstatus mehr darstellte. Am Ortsende von Reichenau wartet eine verwitternde Hinweistafel auf neugierige Passanten. Von nun an gehe ich auf der ursprünglichen Alten Poststraße. Zehn Minuten auf einem Trampelpfad und ich bin endlich wieder im Wald und auf dem richtigen Weg. Die dicht stehenden Bäume lösen die landwirtschaftlichen Flächen ab, deren Monotonie mich zuletzt trübsinnig gemacht hat. Wald, das ist etwas ganz anderes: Schatten, helle Flecken Sonnenlicht auf dem Boden, das Frühlingsgrün, ein konzertantes Vogelzwitschern, Trällern und Tirilieren, weich gepolsterte Wege und der harzige, erdige Duft der Bäume. Durch Wald kann ich ewig gehen. Die melancholische Stimmung verlässt mich auch auf dem Waldweg nicht. Zwei einfache windschiefe Bänke, halbierte Baumstammenden nur, auf zwei runden Pfosten; die nächste Rast. Ich sitze lange auf einer der Bänke am Waldrand und sehe den Ameisen und Käfern zu. Zwei hellgrüne Raupen auf der Bank gegenüber laufen ziellos umher als wüssten sie nicht, wo sie sind und wo sie hinwollen. Sie sind mir weit voraus, denn ihr Gehen erscheint absichtslos. Sie bedenken nicht, auf welchem Weg sie sind. Sie sind auf irgendeinen Weg geraten, von dem sie vorher nichts wussten, und den sie kurze Zeit später nicht mehr erinnern. Gehen um zu Gehen. Nicht mehr. Mir kommt ein Vers von Martinus von Biberach in den Sinn: Ich bin und weiß nicht wer / ich komm´ - weiß nicht woher / ich geh – weiß nicht wohin / mich wundert, dass ich so fröhlich bin. Auf der Bank, auf der ich sitze, krabbelt kein einziges Insekt.
Ich fühle mich eigenartig verloren in der menschenleeren Landschaft. Ist Einsamkeit, frage ich mich, ein Merkmal des Pilgerns? Die letzte Nacht, allein auf dem Hutberg. Der Wunsch, meine Mitpilger noch einmal zu treffen. Das stundenlange Gehen ohne eine Menschenseele zu sehen, lassen mich wiederholt ans Aufgeben denken. Eine Radwanderung, rede ich mir ein, die angenehmere Fortsetzung. Vielleicht irgendwo in Brandenburg. Die Ungewissheit, wo ich heute Nacht schlafen werde. Auch duschen ist nach drei Tagen ein Erlebnis. Königsbrück hat eine Bahnverbindung. Einsamkeit ertrage ich heute nicht besonders gut. In Wirklichkeit bin ich nicht einsam, Familie und Freude sind in Berlin, nicht sehr entfernt. Ich bin allein, doch das ist etwas völlig anderes. Während ich meinen trüben Gedanken nachhänge, und versuche, mir über meine Gefühle und Stimmung klar zu werden, beobachte ich den seltsamen Gang der beiden Raupen. Jede von ihnen kriecht in eine andere Richtung. Manchmal kommen sie nahe aneinander vorbei, ohne sich zu berühren, so als nehmen sie sich gar nicht wahr. Die eine bewegt sich auf vielen kleinen Saugfüßchen vorwärts, die andere wölbt ihren Körper bei jedem Schritt zu einem Bogen, und schiebt sich voran. Sie muss das tun, denn sie hat ihre Saugfüßchen nur am Vorder- und Hinterleib. So ziehen die beiden Grünen ihre ziellosen Runden, hin und her, kopfüber und kopfunter, immer wieder ihren Weg sichernd. Gelegentlich stürzt eine ab, fängt ihren Sturz wie ein Bungee-Springer an einer hauchdünnen, klebrigen Rettungsleine auf, die wie aus dem Nichts erscheint. Und wieder geht es von vorne los. Manchmal schwingen die Raupen eine Weile wie an einer Leine im Wind, als würden sie innehalten, um nachzudenken. Schließlich ziehen sie sich wieder auf die Bank hoch, und setzen ihr zweck- und orientierungsloses Hin- und Hergekrieche fort. Was muss passieren, dass sie ein Ziel ins Auge fassen? Ist das Leben von Raupen nur sinnloses Kriechen, Fallen und Weiterkriechen, bis in alle Ewigkeit. Mir scheint der Gang der Raupen eine Metapher auf das Leben. Ich habe die Botschaft jedenfalls verstanden, schultere meinen Rucksack, nehme meine Stöcke und gehe in den Wald hinein. Der Weg der beiden Raupen hat mich daran erinnert, dass nicht das Ziel wichtig ist, sondern der gegenwärtige Augenblick. Ich fühle mich besser. Wieder einmal bin mit meinem Pilgerdasein ausgesöhnt. Der Wald endet am Stadtrand von Königsbrück, an einem weiteren, sehr besonderen und überdachten Rastplatz. Es gibt ein Gästebuch, ein Notfallkit für die strapazierten Füße des Pilgers sowie ein kleines Grab mit Holzkreuz, Gartenzwerg und frischen Blumen. Auf einer Tafel steht geschrieben: Hier ruht Carl von Meerschweinch. Ein Pilger, den hier sein Schicksal ereilt hat? Astrid und Allan haben ins Gästebuch geschrieben. Sie waren vor mir hier, und ich weiß nun, dass ich sie nicht mehr treffen werde. Sie nehmen in Königsbrück den Zug zurück nach Bremen.
In Königsbrück habe ich das erste Viertel des Wegs von Görlitz nach Vacha zurückgelegt. Die königliche Brücke über die Pulsnitz gab der Stadt einst ihren Namen: die königliche Brücke; Fluss und Brücke sind im Wappen heraldisch visualisiert. Hier endet die Oberlausitz und die Via Regia leitet in die Großenhainer Pflege über, wo Flachland die hügelige Lausitz ablöst. Ein Verein im Ort stellt seit ein paar Jahren detailgetreue Modelle der Bauwerke entlang der Via Regia aus und verschafft so eine einzigartige Miniatur des Pilgerwegs. In Königsbrück kreuzte die Via Regia eine andere mittelalterliche Handelsstraße, die sogenannte Altstraße, die von Dresden kommend in Richtung Spremberg weiterführt.
Am Übergang über die Pulsnitz stand im Mittelalter eine Burg, eine böhmische Grenzfestung, die durch den Sechsstädtebund zerstört wurde. Einst wurde der Warenverkehr von Böhmen ins Rheinland über die Via Regia abgewickelt und eine Zollstation eingerichtet, die zur Burg gehörte. Im Verlauf der Jahrhunderte entwickelte sich um diese Burganlage die sorbische Siedlung Kinspork, die Keimzelle des modernen Königsbrück. Die Stadt, die mit zwei parallelen Straßen an der Via Regia wuchs, wurde Mitte des 13. Jahrhunderts erstmals als eine mittelsächsische Ackerbürgerstadt erwähnt. Ihr modernes Zentrum ist ein großer, fast quadratischer Marktplatz, überfüllt von parkenden Autos. An der Westseite steht das erst nach der Wende aufwändig sanierte, rote Rathaus, noch weiter westlich eine einfache, wenig interessante Hauptkirche aus dem 17. Jahrhundert.
Königsbrück ist auch am Sonntag nicht geschlossen. Am Markt, gegenüber dem Rathaus, drängeln sich Spaziergänger mit ihren Kindern vor einem Eiscafé. Es herrscht Familienstimmung, als sei die Zeit stillgestanden. Nichts erinnert daran, dass es anderswo ein 21. Jahrhundert gibt. Ich weiß, dass es sich um ein Klischee handelt, doch so habe ich mir die DDR immer vorgestellt: ordentlich, sauber und bieder, eben deutsch, wie eine Imitation meiner Kindheit in den 1950er Jahren. Und ein bisschen aus der Zeit gefallen. Museal! Ich sitze mit meiner Eisschokolade vor dem großen Schaufenster des Eiscafés, dahinter vergilbende Gardinen und Topfpflanzen.
Der dritte Versuch eine Übernachtung in der Pilgerherberge zu verabreden. Trotz Mobilfunknetz bekomme ich keine Verbindung. Ich versuche das Armenhaus Stenz anzurufen, eine zweite, einfachere Herberge im Ort. Niemand zu Hause. Also doch Tauscha, die private Pension, und acht zusätzliche Kilometer. Aber dort ist alles belegt, auch die Matratzen im Pilgerquartier. Die Verwandtschaft sei zu Besuch, erklärt mir der Mann am anderen Ende, und will keinen Fremden im Haus haben. Eine ehrliche Antwort, brutal offen, für den Betreiber einer annoncierten Pilgerherberge. Ich schaue bei der Kirche vorbei und bin unerwartet erfolgreich. Der Pfarrer ist zu Hause. Innerhalb von fünfzehn Minuten bin ich in der Herberge untergebracht und unter der Dusche. Ein Pilgerzimmer mit vier Matratzen und der Möglichkeit Tee zu kochen. Später bummele ich durch Königsbrück und finde einen versteckten Biergarten. Der richtige Ort, um entspannt ein Bier zu trinken und ins Tagebuch zu schreiben. Zurück in der Herberge scheint die Abendsonne aufs Bett. Meine müden Füße verweigern mir den Weg zum Sonnenuntergang. Auch heute kommt kein anderer Pilger. Ich bin wieder allein in einer Herberge.
Ich gehe noch einmal zum Markt, wo ich mir in der Touristeninformation den Gräfenhainer Wandschuh kaufe, die Anstecknadel des örtlichen Wandervereins. Das Büro im roten Rathaus am Platz öffnet erst um neun Uhr, sodass ich erst spät aufbreche. Ich sitze am Marktplatz, lausche dem Plätschern des Springbrunnenns und schaue zu, wie zwei Zeugen Jehovas ihren Stand aufbauen. Viel los ist um diese Zeit noch nicht, die meisten Geschäfte sind noch geschlossen. Wir wissen nicht, schreibt mir Klaus-Peter Hertzsch ins Tagebuch, ob wir ans Ziel gelangen. Doch gehn wir los, reiht sich Schritt an Schritt. Und wir verstehn zuletzt: das Ziel ist mitgegangen. Ob das die Heiligen der letzten Tage auch so sehen?
Kurz nach neun habe ich meinen Wanderschuh und stecke ihn zu Veronikas sorbischem Lindenblatt an meinen Rucksack. Ich gehe zurück über die Brücke, überquere die Pulsnitz, und verlasse ganz nebenbei die Westlausitz. Das restaurierte Armenhaus in Stenz, einem Ortsteil von Königsbrück, die zweite etwas einfachere Pilgerherberge, liegt verlassen oben am Berg. Hier hat heute kein weiterer Pilger übernachtet. Ich folge der gelben Muschel bergauf. Auf den asphaltierten Wirtschaftswegen ist das Klack-Klack meiner Stöcke weithin hörbar.
Wie ein Zugvogel folge ich dem Schwarm, den die gelbe Muschel weist. Der Weg führt bergauf. Das Klack-Klack meiner Stöcke klopft auf die asphaltierten Wirtschaftswege; weit zu hören. Die Vögel schweigen, als ich näherkomme, weit und breit sehe ich keine Tiere. Das Land breitet sich scheinbar bewegungslos vor mir aus. Gut, dass wenigstens die Insekten bleiben. Jenseits einer Landstraße beginnt der Wald; mein Weg nach Tauscha. Unvermittelt mündet der Feldweg in einen zugewachsenen grünen Tunnel, der nur wenige Meter einsehbar ist, verschwindet zwischen den Bäumen und hat mich schnell verschlungen. Ich steige den schmalen, grasbewachsenen Pfad hinab in das grüne Zwielicht, Ein unheimliches Gefühl, das nicht weichen will, beschleicht mich. Irgendetwas, dass sich nicht zeigen will, eine deutlich spürbare Atmosphäre, liegt in der Luft. Archaische, in den Tiefen des Unbewussten lauernde Ängste, die dem Homo sapiens das Überleben sicherten, sind immer nur einen Schritt entfernt. Ich spüre das Adrenalin in den Adern, das nervöse Gefühl, das es auslöst. Kaum einen Kilometer hinter Königsbrück beginnt das Naturschutzgebiet Lassnitzer Heide, nach der Gröditzer Skala, das zweite Highlight meiner Fußreise. Mehr Wald geht nicht. Dicht an dicht stehen die Bäume eines Laubmischwalds an beiden Seiten des schmalen Wegs, der dicht mit Nadeln und welken Blättern gepolstert ist. Sie versperren meine Sicht und verheimlichen mir ihre Welt. Tolkien, der Baumliebhaber, schuf den mysteriösen Alten Wald und Fangorn, in denen Baumgärtner, Feen, Kobolde und auch Schlimmes hausen nach dem Vorbild solcher Waldbiotope. Im Wanderer, der sie durchstreift, verdichtet sich der Waldraum zur Atmosphäre des Numinosum tremendum, des Schön-Schrecklichem. Meine Stöcke sind vor der grünen Pracht verstummt. Doch mein Freund der Kuckuck ist wieder da. Er begrüßt mich enthusiastisch wie einen alten Freund, der endlich nach Hause kommt. Viele andere Vögel, deren Stimmen ich nicht zuordnen kann, begleiten meine Schritte musikalisch. Plötzlich ziehen am Himmel dunklere Wolken auf, die dem Grün des Waldes das Leuchten entziehen. Das Licht wird fahler und die numinose Stimmung schwankt ins Unheimliche. Die Schwüle des Vormittags fühlt sich dichter an, drückt mir auf die Haut. Das Hemd klebt mir schon längst wieder am Rücken und meine Hose reibt an meinen feuchten Beinen.
Jenseits einer Landstraße beginnt ein anderer Wald und mein Weg nach Tauscha, biegt vom Feldweg ab in einen zugewachsenen grünen Tunnel, der nur ein paar Meter weit einsehbar ist. Dann verschwindet er zwischen den Bäumen und hat mich kurz darauf verschlungen.
Unvermittelt beschleicht mich wieder dieses unheimliche Gefühl, und als ich den schmalen, grasbewachsenen Pfad hinabsteige, hat es sich längst eingenistet. Höchstens einen Kilometer hinter Königsbrück beginnt das Naturschutzgebiet Lassnitzer Heide, nach der Gröditzer Skala, das zweite Highlight meiner Fußreise. Mehr Wald geht nicht. Dicht steht der Mischwald an beiden Seiten des schmalen Weg, der dicht mit Nadeln und welken Blättern gepolstert ist. Meine Stöcke sind vor der grünen Pracht verstummt. An einer aufwendigen Schutzhütte, mit Vorplatz und Feuerstelle verfehle ich den Weg. Zwar sehe ich die gelbe Muschel, aber nicht den engen Weg, der unmittelbar an der Hütte vorführt. Ich wähle den falschen Weg und stehe kurz darauf an einer Wegkreuzung, an der keine Muschel mehr weiterhilft. Ich gehe geradeaus, da es mir logisch scheint, der Richtung zu folgen, die einmal gewiesen ist.
Der Weg geradeaus ist nur eine Andeutung von Weg und endet einige hundert Meter später im Wald. Zwischen den Bäumen ist nichts mehr, was ein Weg sein könnte. Also gehe ich zurück an die Wegkreuzung und hole den Kompass aus der Tasche. Nach Westen oder Südwesten verläuft die Via Regia, und, meine Peilung weist genau in die Richtung, aus der ich gerade komme. Ich bin irritiert und frage mich, was ich falsch gemacht habe. Ich laufe nach rechts, nach links, suche alle Bäume ab, aber nirgendwo finde ich eine Muschel. Die ersten Regentropfen fallen und ich sichere zuerst mein Gepäck, bevor ich mich an eine Lösung mache. Im leichten Sprühregen suche ich mir die Richtung mit Karte und Kompass. Wieder die gleiche Richtung, aber ich bin nicht bereit im Regen mitten durch den Wald zu laufen. Ich gebe auf, und mache mich auf den Weg zurück zur Schutzhütte, wo alles angefangen hat. Unter dem Dach im Trockenen bringt ein zweiter Versuch mit der Karte das gleiche Ergebnis. Es hat aufgehört zu regnen, und ich gehe auf den Schotterweg hinaus, der an der Hütte vorüber führt. Zwei Radfahrer, Vater und Sohn, kommen auf mich zu. Ich halte die beiden an, die mir den Weg neben der Hütte zeigen, den ich die ganze Zeit im Rücken hatte.
Erleichtert packe ich zusammen und gehe in den Wald hinein, der mir wieder vertraut begegnet. Es tröpfelt zwar immer wieder, versucht zu regnen, aber ich bleibe trocken. So schweißnass wie mein Hemd ist, lohnen die wenigen Tropfen keinen Poncho. Der Wald endet abrupt an einem großen Hühnermastbetrieb, der Farm Tauscha. Auf der Firmentafel steht Hühnerzucht.
Über eine Landstraße biegt der Weg nach Tauscha in einen Feldweg ein, der nach ein paar hundert Metern am ersten Haus des Ortes endet. Das besondere an Tauscha ist eine mittelalterliche Jakobusstatue, die mittlerweile wieder, nachdem sie lange in einem Tresor aufbewahrt wurde, zu sehen ist. Auf dem Weg zur Kirche komme ich mit einem korpulenten Radfahrer ins Gespräch, der über die acht Kilometer stöhnt, die er von Königsbrück gefahren ist. Nach denn üblichen Woher! und Wohin!, das überall auf der Welt dazu dient, sich den Fremden vertraut zu machen, erzählt er mir von gestohlener Kirchenkunst, für die er Stasi verantwortlich macht. Ich gebe ihm eine Erzählung zurück, und berichte ihm von Berlins Urbanität. Wir lieben beide das Exotische. Der Ort scheint menschenleer, wie so oft in der ostdeutschen Provinz. Siesta hält man nicht nur in Spanien. Die Kirche ist verschlossen und geschlossen ist auch der Dorfladen, wo es den Schlüssel geben soll. Ich bin zu neugierig um einfach weiter zu gehen. Ich habe noch nie einen frühmittelalterlichen Jakobus gesehen, der so viele Jahrhunderte überdauert hat. Es ist etwas Besonderes an diesen alten, tief in ihrer Tradition verwurzelten Objekten, von einer Aura von Erinnerung umgeben, der ich mich noch entziehen konnte. Wer hätte gedacht, dass ich in Tauscha einen solchen Schatz finde. Mir bleibt nichts anderes übrig, als mich im Ort umzusehen, gehe zwischen den Häusern umher und um ein Teich hin herum, in der Hoffnung, jemanden zu finden, der mir die Kirche aufschließt. Denn ohne den Jakobus zu sehen, will ich nicht weitergehen. Eine Frau aus der Kirchengemeinde, die ich am Dorfteich treffe, schließt mir die gut gesicherte Tür der kleinen Kirche auf. Auf dem Altar ein Kruzifix mit dem gekreuzigten Jesus - weiß poliert glänzend mit goldenem Lendentuch aus Meißener Porzellan. Dahinter Golgathaatmosphäre in düsteren Farben ausgeführt. Statt einer Orgel, was die Frau bedauert, ein Piano auf Empore. Jaķobus sehe ich nicht, stattdessen einen leeren, steinernen Sockel mit einem Zapfloch. Mein erster Gedanke, die Statue ist beim Restaurator und meine Mühe vergebens. Doch als ich frage, beruhigt mich die Frau, und führt mich vor eine verschlossene Glastür seitlich des Altars. Die Glastür zu öffnen, ist nicht erlaubt. In einem schmalen Kämmerchen, kaum mehr als eine Vitrine, steht der hölzerne Jakobus, eine gut einen Meter große Figur mit dem obligatorischen Hut und der Pelerine des Pilgers.
Eine vergleichbare Jakobusstatue habe ich in der Stephanskirche in Tangermünde gesehen, auf dem Brandenburgischen Jakobsweg, ohne ihr Alter zu kennen. Jakobus, der Ältere, einer der zwölf Jünger, Schutzpatron der Reisenden, und ganz besonders der Pilger. Nicht nur Santiago de Compostela, auch Tauscha besitzt eine mittelalterliche Jakobusstatue. Und was für eine? Eine, die lange in einem Tresor aufbewahrt wurde, und jetzt wieder zu sehen ist. Von seinem Namen leitet sich das ersehnte Pilgerziel Santiago de Compostela ab: Sankt Jakob auf dem Sternenfeld.
Die Heiligenlegende berichtet, dass der Apostel aufbrach um die iberische Halbinsel zu missionieren, was ihm aber nicht gelang. Als er 44 nach Palästina zurückkehrte, wurde er von Herodes Agrippa gefangengenommen, gefoltert und getötet. Der König verbot, ihn zu begraben. Jakobs Schüler stahlen jedoch den Leichnam in der Nacht, und brachten ihn in einem Marmorsarkophag an Bord eines kleinen Bootes, das sie auf das Meer hinaustreiben ließen. Die Meeresströmung trieb das Boot ins spanische Galicien, in die Nähe der römischen Provinzhauptstadt Iria Flavia, dem heutigen Padròn, wo man den Apostel heimlich in einem nahegelegenen Wäldchen bestattete. 813 hatte der Eremit Pelayo in jenem Wald eine Erscheinung: er sah ein seltsames Leuchten und hörte Gesänge. Auf Grund des Leuchtens nannte man den Platz campus stellae - Sternenfeld - ein Name, den die Bevölkerung später in Compostela umwandeln sollte. Bischof Teodomiro, der von dem Ereignis erfuhr, leitete eine Untersuchung ein, in deren Folge das Grab des Apostels entdeckt wurde. Zu Beginn der Reconquista erklärte König Alfons II. den Apostel zum Patron seines Reiches, und ließ an der Stelle des Grabmals eine Kapelle errichten. Damit legte er den Grundstein der modernen Kathedrale in Santiago de Compostela.
Der Name Santiago leitet sich vom Namen des Apostels ab: Santiago, Heiliger Jakob. Die Vornamen Tiago und Diego sind Kurzformen von Santiago. Weitere wundersame Ereignisse sollen an diesem Ort gehäuft haben, und der Legende nach stand der Apostel dem König Ramiro I. in der Entscheidungsschlacht gegen die Mauren zur Seite. Immer mehr Pilger machten sich auf den Weg des Santiago, den Jakobsweg. Und Papst Calixto II. legte fest, dass jenen, die in einem Heiligen Jahr, wenn der 25. Mai, der Namenstag des Jakobus auf einen Sonntag fällt, nach Santiago pilgerten, alle Sünden erlassen würden. Papst Alexander III. erklärte Santiago, gleichberechtigt neben Jerusalem und Rom, zur Heiligen Stadt. Aus der ursprünglichen Kapelle wurde die moderne athedrale der neu entstandenen Siedlung Santiago de Compostela, die im 12. und 13. Jahrhundert ihre größte Bedeutung erreichte.
Nicht nur Santiago de Compostela, auch Tauscha besitzt eine mittelalterliche Jakobusstatue. Und was für eine? Eine, die lange in einem Tresor aufbewahrt wurde, und jetzt wieder zu sehen ist.
Auch meine Führerin durch die Kirche spricht vom Kunstraub der Stasi. Eine Vermutung nur, sagt sie, nicht Genaues ist bekannt. Sie weist auf drei Haken neben der Tür. Dort habe bis in die 1970er Jahre die Jakobusstatue neben zwei hölzernen Marien gehangen, die sie mir auf einer Fotokopie zeigt, und von denen sie weder Herkunft oder Stil nennen kann. Beide wurden im September 1977 gestohlen, zur Zeit einer Messe in Leipzig, zusammen mit einem Porzellan-Jesus. Diesen habe der Meißener Modelleur Johann Joachim Kändler im 18. Jahrhundert entworfen und gefertigt. Er war es auch, der den Ruhm der Meißner Manufaktur begründete, indem er in technischer und ästhetischer Hinsicht vollendete Porzellanplastiken schuf. Seine Werke, besonders seine Kleinfigurenszenen in Form von Aufzügen und Maskeraden, zeichnen sich durch eleganten Schwung und leichte Anmut aus; vollkommenster Ausdruck des Rokoko. Inspiriert von der damals populären Theaterform der Commedia dell’arte schuf er mit seinen Mitarbeitern ganze Gruppen kleiner Accessoires und Figürchen, welche die Schäferromantik des Rokoko thematisierten. Seine Hommagen an das aufklärerische Ideal des freien und vernünftigen Menschen trafen den Zeitgeist, ein zeitloses Meisterwerk europäischer Porzellankunst, das die Porzellanherstellung der Meißener Manufaktur nachhaltig veränderte. Das ursprünglich Modell von Kändler Porzellanfigur eines Jesus, erzählt mir die freundliche Dame zuletzt, wurde glücklicherweise in Meißen aufbewahrt, sodass die Skulptur vor einigen Jahren ersetzt werden konnte. Niemand ahnte in den säkularen Zeiten der DDR-Regierung, schließt sie ihren Bericht, welche Kunstwerke die Kirche beherbergte, sodass der Raub leicht gefallen sein muss. Noch immer engagiert sich der Pfarrer, der die Hoffnung noch nicht aufgegeben hat, auch die beiden hölzernen Marienskulpturen zurückzubekommen.
Ich verlasse Tauscha und treffe auf die Herberge Zum Heidebogen, die mich gestern nicht aufnehmen wollte. Im Stillen habe ich es dem Besitzer bereits gedankt. Der Weg durch die Lassnitzer Heide wäre gestern mehr Anstrengung als Genuss geworden. Am Tor hängt ein Schild: Wassertankstelle. Über den Hof der Herberge schwebt Wild-West-Romantik. Ich nutze die Gelegenheit, gehe über den Hof, und fülle meine Wasserflasche. Ein großes Glas Mineralwasser bekomme gratis: Pilgerservice! Ob ich im Wald zwei „alte Pilger“ gesehen habe? Der Hotelier vermisst zwei seiner Verwandten.
Gehen auf Asphalt ist immer anstrengend. Mir ist heiß. Es ist schwül und drückend. Kilometer um Kilometer führt die Via Regia durch schattenlose Felder. Bauern auf Traktoren mähen kniehoch stehendes Gras. Über ihnen kreisen Bussarde, wohl in der Hoffnung, die Mäharbeit scheuche Beute für sie auf. Ein Bild wie auf hoher See, wenn die Fischer die Netze einholt, und über ihm kreischend die Möwen fliegen. Störche staken in majestätischer Prozession hinter einem Traktor her, verlockt von gleicher Hoffnung. Sie inszenieren ihren Beutegang elegant und gelassen; sehr viel vornehmer als die hektischen Raubvögel.
Lötzschen - immer noch Asphalt - ist ein abgelegenes Dorf mit rassistischer Propaganda im Vorgarten. Was bewegt Menschen in einem friedlichen, ruhigen Dorf dazu, wahrscheinlich ohne Ausländer, solche Ängste zu entwickeln? Wie isoliert und weit entfernt vom politischen Alltag muss man leben, bis man seine Angst verliert? Gartenzwerge und rassistische Schrebergartenromantik sind schlimm genug. Neben einer Frau in schwarzer Burka und der Überschrift Bademoden 2018, hängt ein noch schlimmerer Text: Ich erwarte Respekt gegenüber meiner Kultur, meiner Sprache, meinem Land und meiner Familie!!! Danach können wir mal über Toleranz sprechen . . . !!! Doch davor schlage ich dich tot. Habe nur ich solche Assoziationen? Ist das mit den drei Pünktchen gemeint? Ich hoffe nicht, dass solche Installationen die moderne Form des Gartenzwergs werden. Ich muss fort aus Lötzschen, laufe schon fast die Landstraße hoch, schwitzend, die Sonne frontal im Gesicht. Obwohl ich um diese Dinge weiß, verstört mich dieser Vorgarten zutiefst.
Vorbei an Thiendorf, unter der Autobahn Berlin-Dresden durch. Ich brauche eine Rast, lehne meinen Rucksack an einen Baum, mich an den Rucksack und das Surren und Rauschen der Autobahn wiegt mich in den Schlaf. Am Himmel türmen sich Cumuluswolken zu fantastischen Gebilden. Schon auf der Schwelle zum Traum frage ich mich noch: Was hat mich so erschöpft? Heiß und schattenlos gehe ich weiter durch die Felder auf Schönfeld zu, meinem Etappenziel. Viel weiter schaffe ich es heute nicht. Ein kurzes Stück steigt mein Weg noch unter Bäumen an, kaum Wald zu nennen, hoch hinauf, die lärmende Landstraße neben mir. Endlich Schatten, und ich werde von Fliegen bedrängt, die über meinen Schweiß herfallen. Auf dem Weg liegt eine Blindschleiche. Ich denke sie ist tot, doch als ich sie nur leicht berühre, schlängelt sie sich unaufgeregt ins Gestrüpp. Kaum vorzustellen, dass es ihr zu warm ist? Die Landstraße ist stark frequentiert. Sie führt unmittelbar hinein nach Schönfeld, auf eine schnurgerade, breite Hauptstraße durch das Dorf. Schönfeld ist ein Straßendorf. Vorbei am Schloss, jetzt Altenresidenz, Adresse der Jugend, entlang an Häusern, die wie Perlen an der Schnur die Straße flankieren. Ich finde ihn schnell, den Hinterhof, am anderen Ende des Dorfs; mein Quartier für heute Nacht. Ein weiteres Mal habe ich die Via Regia verloren.
wird fortgesetzt
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