Montag, 12. April 2021

Ein ökomenischer Pilgerweg

In einem Umfeld von Hypermobilität sind Fußreisen, gleichgültig ob real oder virtuell, revolutionär, und wie jede Revolution subversiv. Revolutionen sind immer visionär. Wer zu Fuß geht, stellt sich eine andere Welt vor: Teilhabe statt Haben. Bewegung statt Konsum. Eine innere und äußere Balance von Natur und Kultur - nachhaltig, ökologisch und friedlich. Eine Welt, die so beschaffen ist, bildet einen sozial gerechten Lebensraum.
Wer hat in einem bestimmten Alter nicht schon einmal gedacht, wenn ich wieder jung wäre. . . . ! Und manchmal, im Stillen, mit dem Nachsatz: Was würde ich dann alles anders machen. Die vergangenen Jahre mit ihren vielfältigen Erfahrungen provozieren solche Gedanken ohne bewusstes Zutun. Wer dann versteht, nicht nur auf seine Gedanken zu hören, sondern auch auf seine Gefühle zu achten, der wird nicht nur erkennen, sonders es tief in sich spüren, dass die verstrichenen Jahre gute waren und weitere folgen werden. Meine kommenden Jahre beginnen damit, dass ich wieder zu Fuß gehen werde. Nur dem Fußgänger rücken die für das Überleben unseres Planeten immer wichtiger werdenden Werte Entschleunigung und Nachhaltigkeit, Autonomie von überholten Gewohnheiten und ein alternatives Erleben von Raum und Zeit näher.

Die Via Regia, die königliche Straße, war im Mittelalter ein Handelsweg, der Ost- und Westeuropa miteinander verband. Eine internationale kommunikative Achse aus dem Osten in den Westen Europas. Die Straße stand im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation unter dem Schutz der königlichen Zentralgewalt. Land- und Heerstraßen gab es im mittelalterlichen Europa viele, die bedeutendste aber war die auch als Hohe Straße bezeichnete Via Regia, die das Rheinland mit Schlesien verband.
In einer Urkunde des Markgrafen Heinrich von Meißen wird die Via Regia 1252 zum ersten Mal als Strata Regia, königliche Straße, erwähnt. Ihre Anfänge reichen allerdings bis ins 8. Jahrhundert zurück. Die Hohe Straße folgte den Flusstälern, an deren Furten die Siedlungen lagen, und die Städte in ihren Verlauf einbezogen werden konnten. Nach dem Niedergang der königlichen Zentralgewalt, spätestens jedoch seit dem 14. Jahrhundert, kann von diesem Handelsweg als von einer rechtlich verbindlichen Via Regia nicht mehr gesprochen werden. In ihrer Funktion, und unter dem eingebürgerten Namen Hohe Straße, bestand sie als Handelsweg aber weiter. Einzelne Fürsten oder Landesherren, besonders der König von Böhmen sowie die sächsischen Kurfürsten, hatten Kontrolle und Schutz für diese Straße in Mitteldeutschland übernommen, die wirtschaftlich von großer Bedeutung für den überregionalen Handel und Warenaustausch war. Die Via Regia verband die beiden großen Messestädte Frankfurt am Main und Leipzig, und beförderte Textilien und Felle, Wachs, Honig und Holz aus Westeuropa im Tausch gegen den Färberwaid des Thüringer Beckens sowie die Bergbauprodukte Obersachsens.
Auch das Militär machte ich die Achse Via Regia für die Bewegungen ihrer Armeen zunutze. Im Einzugsbereich der Straße fanden historisch bedeutende Schlachten statt, wie die von Hochkirch, Auerstedt, Großgärschen oder Bautzen. Nach der Niederlage Napoleons und den strukturellen Veränderungen in Mitteldeutschland nach dem Wiener Kongress von 1815 verlor die Hohe Straße ihre Regionen verbindende Bedeutung immer mehr.
2005 wurde die Via Regia vom Europarat zur europäischen Kulturstraße erklärt. Sie verläuft von Breslau in Schlesien, nach Görlitz und Bautzen, über Kamenz, Königsbrück, Großenhain, Eilenburg, Grimma, Leipzig, Weißenfels, Naumburg an der Saale, Eckartsberga, Erfurt, Eisenach, Hünfeld, Fulda, Neuhof, Steinau an der Straße, Gelnhausen, Hanau, Frankfurt am Main, und von dort über den Rhein und weiter bis in die Handelszentren Belgiens und der Niederlande und ihrer Häfen.

Auf der Via Regia haben im Lauf der Jahrhunderte viele Pilger, die aus dem Osten Europas kamen um an der Aachener Heiligtumsfahrt teilzunehmen, diesen Weg über Eisenach, Marburg und Köln nach Westen genommen. Als Pilgerweg bietet die Via Regia auch die Möglichkeit, das Wegenetz der Jakobswege nach Santiago de Compostela zu erreichen.

Der Prophet Jeremias hat die Menschen aufgefordert: Tretet auf die Wege und schauet und fraget nach den vorigen Wegen, welches der gute Weg sei, und wandelt darin, so werdet ihr Ruhe finden für eure Seele! Aber sie sprachen: Wir wollen´s nicht tun! Der Ökomenische Pilgerweg, der 2003 eröffnet wurde, und der sich am Verlauf der historischen Via Regia orientiert, stellt diese Jeremia-Stelle, etwas abgewandelt, in seinem Pilgerführer voraus. Es ist sein Anliegen, mit Jeremias Menschen aufzufordern, sich auf den Weg zu machen, und sich mit den Pilgern, die in den Jahrhunderten vorausgegangen sind, zu verbinden.
Der Pilger, vom lateinischen peregrinus, in der Fremde sein, abgeleitet, ist eine sozial konfigurierte Einzelperson, die, heute nicht nur noch, aus religiösen Gründen in die Fremde geht, der zu Fuß und mit bescheidenen Mitteln eine Wallfahrt zu einem Pilgerort unternimmt, immer auch eine Reise ins Ungewisse ist. Auch der moderne Pilger verlässt sein vertrautes Alltagsleben und zieht einsam in die Fremde. Er tut das weniger aus religiösen Motiven als auf der Suche nach Sinn und Bedeutung in seinem Leben, auf der Suche nach einer neuen Perspektive oder einfach nur, weil er, wie Harold Fray, einer abtötenden Routine für kurze Zeit entkommen will. Er nimmt für sich eine spirituelle Motivation in Anspruch, die keine Buße im Sinn hat, sondern als Selbstheilung oder Selbsterkenntnis verstanden wird.
Der ökomenische Pilgerweg umfasst ein Teilstück der historischen Via Regia. Ein Verein, der den Weg wartet und betreut, hat ihn mit einer gelben Muschel auf blauem Grund durchgehend markiert. Überall am Weg übernehmen Anwohner die Aufgabe, die Pilger als Herbergseltern zu unterstützen, gewähren ihnen Gastfreundschaft und Ruhephasen. Sie sorgen dafür, dass der Pilger sein Ziel erreicht. Die Wegmarkierung mindert das Gefühl der Fremdheit, da er sich beschützt auf einem Weg weiß, der ihn nicht in die Irre führt, sondern den er, obwohl er alleine geht, gemeinsam mit anderen, die vor und hinter ihm gehen, beschreitet. Die Muschel ist das internationale Symbol der Jakobspilger. Ihre Bedeutung hängt mit einer Legende zusammen, die Jakobus den Älteren zum Patron der Pilger macht, die sein Grab in Santiago de Compostela besuchen. In den Augen der Bürger macht sich der, der sucht, immer lächerlich, da sie wie kleine Kinder nicht verstehen, worüber die Großen reden.

Die Aufforderung zu einer Pilgerschaft auf dem ökomenischen Pilgerweg der Via Regia richtet sich an alle Menschen, unabhängig von Dogma und Doktrin, sei sie nun weltlich oder religiös motiviert, die sich für ein unverhofftes Miteinander öffnen, die Begegnung mit den Menschen suchen, die am Weg leben, die sich austauschen und aneinander teilnehmen wollen, die Antworten auf existenzielle Fragen suchen. Der Weg ermöglicht den Pilgern, Wanderern oder Reisenden, gleichgültig wie sie sich selbst verstehen, eine innere Einkehr, eine Rückbesinnung auf das Wesentliche ihres Lebens, Kontemplation, Meditation, Religio im ursprünglichen Wortsinn, fernab von den Reizen und Ablenkungen einer globalisierten Welt, die den Menschen immer mehr von sich selbst entfernt. Entfremdet! Die Rede vom Weg, der das Ziel ist, kommt nicht von ungefähr. Jeden Weg zu gehen, der herausfordert und fördert, ist eine leibliche und psychische Erfahrung, die den einsam wandernden Pilger, denn am besten gelingt dies alleine, in seine Ganzheit zurückbringt. Geh weiter, schreibt Wolfgang Büscher, auch wenn du es nicht verstehst. Du wirst es morgen verstehen. Es war ein einfaches starkes Mantra, seine Magie funktionierte immer. Als ein alter, schon lange genutzter Weg, hat die ehemalige Via Regia zwischen Görlitz an der Neiße und Vacha an der Werra im ökomenischen Pilgerweg eine neue Funktion gefunden.

Von Görlitz an der Neiße nach Leipzig in 10 Etappen

Von Leipzig nach Vacha an der Werra in 10 Etappen


wird fortgesetzt


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