Dienstag, 4. Mai 2021

Aufbruch an der Neiße

Ich schwitze schon, bevor meine Fußreise wirklich begonnen hat. Als ich die U-Bahn am Südstern erreiche, weiß ich, dass mein Rucksack zu schwer ist. Lange habe ich überlegt, was ich wirklich brauche, habe in den letzten Tagen aussortiert und wieder einsortiert, und zuletzt eine Entscheidung getroffen. Während ich zum Südstern gehe, fällt mir nichts ein, was ich wieder auspacken könnte. Einfachheit und Bescheidenheit zu wollen, heißt nicht, sie sofort umsetzen zu können. Idealisierung ist leicht, mit den Konsequenzen zu leben, dagegen etwas völlig Anderes. Immer wieder fällt mir mein Bedürfnis nach Kontrolle und Sicherheit in den Rücken. Eine Fußreise ist allerdings alles andere als überschaubar oder planbar. Loslassen ist eine Kunst, die ich immer wieder gegen meine Gewohnheiten verteidigen muss. Während ich in den U-Bahnschacht hinuntergehe, kommt mir Nelly Sachs in den Sinn: Alles beginnt mit der Sehnsucht, meint sie. Ich hätte mein Leitmotiv nicht besser ausdrücken können.
In der überfüllten U-Bahn läuft mir der Schweiß bereits in Strömen den Rücken hinab, und tropft mir von der Stirn. Schon zu Beginn erlebe ich die ersten Konsequenzen der Unsicherheit vor einer Reise, wie ich sie vorher erst ein einziges Mal unternommen habe: Allein durch unbekanntes Gebiet zu wandern, eine Gegend in Deutschland, die mehr oder weniger dicht besiedelt und strukturiert ist. Doch ich bin mir sicher: Es ist nicht möglich, sich in Europa zu verlaufen. In meiner Anspannung bin ich viel zu früh am ZOB, wo trotz der morgendlichen Stunde reges Leben herrscht. Der Bus mit dem ich nach Görlitz fahre, ist fast leer. Kein Geschäft für den Postbus, für mich aber eine angenehme, vierstündige Reise.
Nach einem Jahr bin ich wieder in Görlitz. Schwer beladen suche ich mir den Weg in die Stadt und lande schwitzend im Café Schwerdtner, genau wie im letzten Jahr, als ich auf Ralf warten musste, dieses Mal aber ohne Fahrrad. Ein Eis-Orange-Drink kühlt mich auf angenehme Temperatur herab, ein nachgeschobener Cappuccino besiegt den Spannungskopfschmerz; die letzte Nacht war viel zu kurz. Aber ich fühle mich zu Hause in Görlitz, komme mir vor, wie ein alter Bekannter, der noch einmal kurz vorbeischaut.

Im Haus der Begegnung bereiten mir die Herbergseltern ein freundlich-distanziertes Willkommen. Dann geht es hinab in den zur Herberge ausgebauten Keller. Angenehm empfängt mich die Kühle des Gewölbes.
Außer mir sei niemand mehr angemeldet, erklärt mir die Herbergsmutter. Ich bin alleine in der Herberge und kann mich erst einmal ausbreiten und mein Gepäck erneut sondieren. Schnell erhole mich in dem kühlen Schlafsaal von den heißen Stunden, die mir so anstrengend vorgekommen sind.
Die Stadt ist leer, nicht das Gedränge in den Straßen wie vor einem Jahr. Die Touristen sind noch nicht eingetroffen. Auch die Straße hinab an die Neiße ist noch nicht fertig. Zwischen den Absperrungen hat sich nichts getan, breitet sich immer noch ein Sandbett statt einer begehbaren Straße aus. Auch die Brücke über die Neiße, hinüber nach Polen, ist die gleiche geblieben.
Die Kirche Sankt Peter und Paul in Görlitz ist eine Sehenswürdigkeit, gleichgültig, ob mam religiös ist oder nicht. Ich betrete die große Hallenkirche mit einer beeindruckenden Orgel. Gerne würde ich sie spielen hören. In einer Ecke unter der Orgelempore sind Fragmente der Klaviatur und Register der ehemaligen Sonnenorgel ausgestellt. In der benachbarten Vitrine wird die Sonne aufbewahrt, deren Strahlen Orgelpfeifen sind, und die Instrument den Namen gegeben hat.
Die beiden Kirchenpatrone haben am Ende des Zweiten Weltkriegs die polnischen Besatzern gestohlen. Die Podeste auf denen sie einst standen, wirken in ihrer Verlassenheit deplaziert. Die Statuen werden als Beutekunst im Nationalmuseum in Warschau aufbewahrt. Wann werden sie wieder auf ihren vereinsamten Podesten im Eingangsbereich können?
Portraits der Pfarrer des 17. und 18. Jahrhunderts bevölkern die Wände der Kirche. Strenge Blicke, hoch geschnürt in atembeklemmenden Halskrausen und schwarzen Soutanen, protestantisch düster, lebensfeindlich, Männer, die eine unglückliche Aura ausstrahlen, schauen mich ermahnend an, obwohl sie von mir nicht das Geringste wissen. Ich frage mich heute nicht zum ersten Mal, wie man solchen Männer einst die Frohe Botschaft abnehmen konnte? Die Stille in der Kirche entspannt mich von den kleinen Sorgen des Tages. Das Gewicht des Rucksacks und der Smartphone-Aku, der plötzlich schwächelt, verlieren in der beeindruckenden Weite dieser Halle an Wichtigkeit. Die Kühle der Mauern hält die Hitze draußen. Ich sitze auf einer Insel mitten im schwül-drückenden Görlitz. Noch während ich mich mit geschlossenen Augen in einer der Bankreihen entspanne, weiß ich plötzlich, dass alles gut wird, Ich fühle mich getragen und sorgenlos. Im nächsten Augenblick fließt eine Traurigkeit durch mich hindurch, die ich nicht zuordnen kann, die mir die Tränen in die Augen treibt. Grundlos?
Um mich herum flanieren fotografierende Touristen durch das Kirchenschiff. Fotografieren ist gebührenpflichtig. Wie in den Brandenburger Kirchen, die ich auf dem Weg nach Wilsnack und Tangermünde gesehen habe. Auch in Görlitz werden Spenden für die sanierungsbedürftige Orgel gesammelt. Eine Kerze für die Kinder.
Am Eingang bekomme ich meinen Pilgerstempel. Der Anfang ist gemacht. Alles steht auf Start.
Am Abend ein kleiner Imbiss am Flüsterbogen. Panaché und Lachssandwich, mehr als ich essen kann, für kleines Geld. Ein Pilgerimbiss! Schlemmen in Görlitz! Wenn das ländliche Sachsen, wohin ich morgen früh aufbreche, dem kulinarischen Standard Brandenburgs ähnelt, kommen asketische Tage auf mich zu. Viel Proviant werde ich jedenfalls nicht auf meine Schultern nehmen.
Gegenüber das mondäne Hotel Börse. Das Portal steht in einem eigenartigem Kontrast zu der streng gegliederten Fassade. Die Fenster des Erdgeschosses sind vergittert. Schmiedeeiserne Handwerkskunst. Mehr dem Design verpflichtet, als dem Sicherheitsbedürfnis geschuldet.
Hand in Hand geht ein Großvater mit seine Enkelin vorüber, das Mädchen nur wenig älter als ein Jahr. Er sicher schon weit über die Siebzig. Sie kann gerade erst gehen, er schleppt sich mühsam vorwärts, gebeugt mit unsicherem Schritt. Ein schönes Paar, die beiden, wie sie behutsam ihres Weges gehen, Anfang und das Ende des Lebens symbolisieren. Buen Camino, ihr beiden, wünsche ich ihnen hinterher, wohin auch immer eure Reise führt. Wie lange werden mich meine Füße noch tragen? Wohin werde ich in zehn Jahren gehen?
Auf dem anderer Seite des Platzes hat sich ein elegantes Restaurant unter den Arkaden eingenistet. Schräg scheinen die letzten Strahlen der Abendsonne unter die vier Bögen. Jeder Platz ist besetzt, und das Stimmengewirr strömt in an- und abschwellenden Wellen über den Platz zu mir herüber.
Am Gebäude gegenüber prangen die fünf Wappen des Oberlausitzer Sechs-Städte-Bunds als Kapitelle an der oberen Fensterfront. Das Wappen von Görlitz ist nicht unter ihnen.
Zwei Jungen toben lärmend über den Platz, und aus der Tür des Gastraums hinter mir strömt eine Mischung von Musik und Gesprächen in meine Ohren. Die Sonne ist mittlerweile hinter den Häusern verschwunden, vielleicht auch hinter den dunklen Wolken, die aus Südwesten heraufziehen, Ob sie den Regen bringen, den sich meine Herbergseltern so sehnsüchtig für ihren schönen Hausgarten wünschen? Der Winter sei viel zu mild gewesen, sagen sie, und nun fehle auch noch der Regen. Ich sehe das heute, am Beginn meiner Fußreise natürlich anders, behalte mein Bedürfnis aber lieber für mich.

Ich verbringe eine gute Nacht im Schlafsaal im Haus der Begegnung der Methodisten in Görlitz, in Geriz, wie die Sorben sagen. Polnisch Zgorzelec, denn Görlitz ist eine geteilte Stadt, und gehört auch zu Polen. Ich bin früh unterwegs, und schon vor acht auf dem Weg. Ich brenne darauf loszugehen, um zu sehen, was es zu sehen gibt. Und plötzlich wusste ich es wieder: Es ist Zeit, etwas Neues zu beginnen, dem Zauber des Anfangs zu vertrauen.
Nach dem freundlichen Empfang gestern, fällt der Abschied von den Herbergseltern heute Morgen unerwartet kühl aus. Vielleicht weil ich nicht um den Pilgersegen bitte? Vielleicht weil sie so früh noch verschlafen sind? Die Herbergsmutter drückt mir den Stempel in den Pass und gibt mir den Segen schriftlich mit auf den Weg. Wie ungewöhnlich! Die Ansichtskarte, die sie mir in die Hand drückt, sagt sie, ist eine Erinnerung an Görlitz. Ich schaue nach, und sehe den Eingang zur Ochsenbastei zum ersten Mal, und weiß nicht, was ich damit soll. Warum eine Fotografie eines Teils der ehemaligen Stadtbefestigung, auch wenn sie zu den sehenswerten Resten der mittelalterlichen Görlitzer Stadtmauer gehört? Damals wurde das Vieh in die Neißeaue vor der Mauer getrieben, und die Bastei diente dem Schutz des Tores und der Viehweide; so erhielt sie ihren Namen. Doch es geht um die aufgedruckten Glückwünsche, die mich berühren, und die ich mir nicht passender vorstellen kann:

Ich wünsche dir, dass deine Augen leuchten,
wenn du zurückkommst,
entspannt, glücklich, friedvoll und gelassen.

Neue Heiterkeit soll aus ihnen strahlen,
ein heller Widerschein,
wohltuende Eindrücke,
Träume und Gedanken.

Vor allem aber sollen deine Augen
vor Freude glänzen,
weil dein Ja zum Leben größer geworden ist.
Welch ein Segen!

Sicher, ein Ideal. Aber was soll ich auch anderes von meiner Fußreise, gleichgültig, ob sie Pilgerschaft oder Wanderung heißt, erwarten. Mir ist das Gehen wichtig, das mich nicht nur geographisch weiterbringt. Einen anderen Wunsch, ein anderes Ziel, habe ich jetzt nicht. Den indirekt geschenkten Pilgersegen nehme ich gerne mit auf den Weg. Um Proviant einzukaufen ist es noch zu früh. Ich hole mir in einer bereits geöffneten Bäckerei einen schaumigen Cappuccino und setze mich nach draußen, in die warme, noch milde Morgensonne. Amüsiert schaue den Passanten zu, die ohne viel wahrzunehmen unterwegs sind. Mir scheint, sie tun das jeden Morgen. Nur sie alleine wissen wohin sie eilen. Ich habe Zeit, und genieße den Gedanken, dass ich nichts muss, aber alles kann. Die Zeit, als ich morgens selbst so auf dem Weg zur Arbeit war, ist endgültig vorbei. Niemand, nur ich selbst, bestimme über meinen Tag. Gute Gedanken am Beginn einer wochenlangen Fußreise.
Im Postamt schickte ich gestern die aussortierten Dinge zurück nach Berlin; darunter meine Sandalen. Der letzte Luxus für meine Füße macht sich auf den Weg zurück nach Haus. Kaum habe ich mein Gepäck geschultert, weiß ich, dass meine Entscheidung richtig war. Jetzt kann ich den Rucksack tragen, ohne ständig schmerzhaft das Gewicht auf meinem Rücken zu spüren. Es war nur wenig zu viel, aber das Wenige war genug mir Schwierigkeiten zu bereiten. Gewicht ist Angst, behauptet die Ultralight-Philosophie. Ich werde mir diese Lektion merken: Trifft das nicht häufig zu im Leben. Es sind die Kleinigkeiten, auf die es ankommt. Jeder weiß es: Es lebt sich leichter ohne viel Besitz.

Der Pilgerweg, die Via Regia, beginnt auf dem rechten Neißeufer in Görlitz, dort, wo im Jahr 1264 das Stadthospital zum Heiligen Geist stand, das auch Pilger beherbergt haben soll. Ich war bereits im vergangenen Jahr an der Brücke über die Neiße, unterhalb der Pfarrkirche St. Peter und Paul. Ich war drüben, auf der polnischen Seite, die sich nicht von der deutschen unterschied, und wartete auf einen Freund, mit dem ich auf den Oder-Neiße-Radweg wollte, die beiden Flüsse, die noch vor kurzer Zeit den Eisernen Vorhang, so hat Winston Churchill die Grenze quer durch Europa genannt, markierten. Bevor ich Görlitz dieses Mal den Rücken kehre, will ich Jakob Böhmes Grab besuchen, auf dem historischen Friedhof an der Nikolaikirche. Letztes Jahr kam ich kurz vor der Schließung des Friedhofs an. Ich konnte sein Grab, das etwas abseits liegt, so schnell nicht finden. Ich glaubte meiner Ortskenntnis sicher sein, trotzdem irre durch die Gassen der unteren Altstadt auf der Suche nach der alten Stadtkirche. Schließlich frage ich eine junge Frau, die ihre französische Bulldogge auf seinem Morgenspaziergang begleitet.
Der Friedhof ist bereits geöffnet, und ich bin nicht allein dort. Aus einem Moment der Besinnung werde ich durch Motorenlärm gerissen, den die Arbeiter mit Rasenmähern unpassend inszenieren.
Jakob Böhmes Grab ist die einzige gepflegte letzte Ruhestätte des historischen Friedhofs, der eine Vielzahl beeindruckender Fragmente von Gräbern und Grabsteinen beherbergt. Vor seinem Grab steht eine steinerne Bank für den Besucher. So ehrt die Stadt Görlitz ihren berühmten Sohn, dem ich eine seiner Bemerkungen als Epitaph in den Grabstein gemeißelt hätte: Lass das Grün des Lebens in deine Augen fließen, um heimisch zu werden in der fremden Welt, die gelebt sein möchte. Ich kann nicht bleiben, die Mäharbeiten verderben mir die Stimmung. Ich frage einen der Arbeiter, ob ich durch den offenen Seiteneingang in die Kirche kann. Die Tür, antwortet er mir, führt lediglich in ihren Geräteraum.

Es dauert noch eine Weile, bis ich aus der Stadt herausfinde. Das berühmte Heilige Grab, eine Replik des Jerusalemer Vorbilds aus dem 15. Jahrhundert, ist noch geschlossen. Ein anderer berühmter Sohn der Stadt, der Bürgermeister Emmerich, hat es nach seiner Pilgerfahrt ins Heilige Land als Sühne für eine Vergewaltigung gestiftet und als Miniatur nachbauen lassen. Sicherlich ein sehenswertes Zeitdokument. Doch ich mag nicht warten und erst recht keinem Vergewaltiger die Ehre geben. Soweit reicht meine Fähigkeit zu vergeben noch nicht. Der Gedanke, dass man sich von schweren Sünden durch eine Pilgerfahrt reinigen kann, scheint mir nicht angemessen zu sein. Allzu einfach und genussvoll erscheint mir eine solche Buße. Ich kann mir nicht vorstellen, wie das Trauma einer Vergewaltigung wieder gut zu machen ist. Durch ein Bauwerk sicher nicht.

Den Weg nach Ebersbach, sorbisch Habrachćicy, finde ich problemlos. Die Via Regia, die über einen asphaltierten Radweg zwischen Feldern verläuft, verläuft im Südosten Sachsens, entlang der Grenze zum tschechischen Okres Děčín in Nordböhmen. Ebersbach ist ein kleines Dorf, kaum achttausend Menschen leben in dem Ort, in dem eine der drei Spreequellen entspringt. Der Zusammenfluss der Ebersbacher und Neugersdorfer Quelle bildet einige hundert Meter die deutsch-tschechische Grenze. Nach fünfhundert Metern auf tschechischem Territorium erreicht das Fließgewässer den Ebersbacher Stadtpark, wo es sich mit der Kottmarer Quelle zur Spree vereinigt. Vom Aussichtsturm auf dem Schlechteberg öffnet sich der Blick bis zum Kottmar im Osten, und weiter aufs Isengebirge und das Zittauer Gebirge. Der Kottmar, 583 Meter über NN, ist ein Berg des Lausitzer Berglands. Zusammen mit dem benachbarten Schlechteberg und dem Löbauer Berg handelt es sich den drei Bergen um die Reste eines im Tertiär erloschenen Vulkans. Bei klarem Wetter kann man das Riesengebirge und die Schneekoppe sehen, behauptet jedenfalls ein Spaziergänger am Fuß des Bergs. Ich sehe nichts davon, und frage mich, wann das Wetter noch klarer wird, denn die Sonne scheint und der Himmel ist tiefblau. Südlich von Ebersbach erstrecken sich die tschechischen Ausläufer des Lausitzer Berglands.
Das redende Wappen von Ebersbach ist ein Namenwappen, das auf den Namen des Inhabers anspielt oder dieses rebusartig symbolisiert: ein grüner Schildfuß mit goldenem Querfluss, darüber in Gold ein schreitender, schwarzer Eber mit weißen Hauern. Einst stand dieser Eber hinter einem Baum im Wasser, und man erzählt sich, dass früher die Eber aus den naheliegenden Wäldern bis an die Spreequelle kamen. Im 13. Jahrhundert war Ebersbach wahrscheinlich ein von Siedlern gegründetes Waldhufendorf; eine charakteristische, ländliche Siedlungsform in Mitteldeutschland, vo Nordschwarzwald bis zum Erzgebirge. Hufendörfer bestehen aus einer Reihe gegenüberliegender, relativ breiter Streifen landwirtschaftlichen Grundbesitzes mit einer Hofanlage am Straßenrand des jeweiligen Streifens befindet. Im sächsischen Gebirgsvorland gibt es aneinandergekettete Waldhufendörfer, die bis zu 25 Kilometern durch die Tälern ziehen.

1306 wurde der Ort erstmals urkundlich erwähnt. Die Markgrafen Otto und Woldemar von Brandenburg schlossen das Dorf damals an die Stadt Löbau an. Die Hussitenkriege müssen für Ebersbach eine schlimme Zeit gewesen sein, denn noch Jahrzehnte später trug das Dorf den Beinamen Wüstenebersbach. Erst unter der Grundherrschaft der Herren Ernst und Georg von Schleinitz im 16. Jahrhundert erholte sich das Dorf; Landwirtschaft und Handwerk prosperierten, die von den Hussiten zerstörte Kirche wurde wiederaufgebaut. In diesen Jahren kamen die ersten Leineweber nach Ebersbach. Handwerk und Wirtschaft erlebten eine kurze Blütezeit. Schon wenige Jahrzehnte später, im Dreißigjährigen Krieg, wurde das Dorf ein weiteres Mal schwer verwüstet. Erst nach und nach löste sich der Ort vom Schrecken des Krieges, und um 1700 setzte im ganzen Ort eine rege Bautätigkeit ein. Die Webstühle produzierten wieder und Leinwandgroßhandel und Leinenindustrie machten Ebersbach zum drittwichtigsten Industriestandort im Zittauer Raum. Die Gewebe und das Garn der später eröffneten Garnbleiche fanden ihren Weg auf die Via Regia und wurden nach Westen gehandelt wurden. Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm Ebersbach viele Flüchtlinge und Vertriebene aus den Ostgebieten auf, und die Einwohnerzahl stieg auf fast dreizehntausend Bewohner. Nach der Gründung der DDR siedelten sich wieder Betriebe der Textilindustrie im Ort an und völlig neue Wohngebiete in Plattenbauweise entstanden. Wie in anderen ländlichen Gebiete Ostdeutschlands verliert auch die inzwischen wieder strukturschwache Region Ebersbach nach der Wende seine jungen Bewohner an die Städte. Von all dem ist bis auf die beeindruckende Aussicht über das Lausitzer Bergland im modernen Ebersbach nichts mehr zu sehen.
Auf dem Kreisbahnradweg, einer überbauten Trasse, führt die Via Regia zum ehemaligen Bahnhof Königshain-Hochstein. Königshain, sorbisch Kralowski haj, wurde erstmals im Jahr 1298 urkundlich erwähnt. Namengebend soll die Gemahlin eines Böhmischen Königs gewesen sein, die in den benachbarten Wäldern ihre Jagd eingerichtet hatte. Wie Ebersbach wurde auch Königshain während der Hussitenkriege 1492 fast vollständig zerstört. Der Ort beherbergt den ältesten Profanbau der Oberlausitz, den Steinstock, einen massiven zweigeschossigen Bau der ehemaligen Schlossanlage, vermutlich der Rest eines mittelalterlichen Wohnturmes und Rittersitzes aus der Zeit der deutschen Kolonialisierung um 1200. Zum Königshainer Schloss gehören ein Wasserschloss, das im Dreißigjährigen Krieg schwer beschädigt wurde. 1504 gehörte Königshain der reichen Görlitzer Kaufmannsfamilie Frenzel, die in der Abgeschiedenheit der Königshainer Berge einen adligen Lebensstil pflegte. Hans Frenzel war durch den Tuchhandel zu Reichtum gelangt und legte sein Geld in Grundbesitz an. Das Wasserschloss, das sein Sohn Joachim Frenzel errichtete, ist nur durch eine schmale Gasse vom Steinstock getrennt. Mitte des 18. Jahrhunderts bewohnte der Numismatiker und Naturforscher Carl Adolph Gottlieb von Schachmann sein Erbe, das Wasserschloss, nur kurz. 1762 begann er den weiteren Ausbau der alten Schlossanlage, und gab den Auftrag für ein Barockschloss, eine schlichte Anlehnung an die französische Bauweise vor Ausbruch der Französischen Revolution. Seit dem 18. Jahrhundert wurden die ergiebigen Granitsteinbrüche der Königshainer Berge ausgebeutet, ein wichtiger Erwerbszweig für die ansässige Bevölkerung. Als im Jahr 1905 der Bahnanschluss Königshain-Hochstein der Görlitzer Kreisbahn auf der Strecke von Görlitz nach Weißenberg eröffnete, wurde der Abtransport der Steine wesentlich verbessert. Der letzte Steinbruch, zu dem ein schmaler Pfad von der Via Regia abzweigt, schloss erst 1975. Am Ende des Zweiten Weltkriegs war das Schloss ein Hauptverbandplatz der deutschen Armee, der vom Sanitätsdetachment eingerichtet wurde, als größere Truppenverbände in der Region operierten. Zwei Friedhöfe im Park erinnern an diese schwere Zeit. Während der DDR waren Schloss und Gut Königshain Zentrum eines landwirtschaftlichen Betriebs.

Rechts und links des Wegs wächst eine dichte Hecke, in die vereinzelt Laubbäume integriert sind. Ein grüner Tunnel, der nur gelegentlich Blicke auf den immer dunkler werdenden Himmel und die sich rechts und links ausdehnenden Raps- und Weizenfelder zulässt. Zwischen Ebersbach und Königshain verabschiedet sich die Sonne, die durch die dunkelgraue Bewölkung nur noch zu ahnen ist. Am aufgegebenen Bahnhof Königshain-Liebstein, an der Bahnstrecke Görlitz-Weißenberg, lege ich eine erste Rast ein. Als ich meine Dehnübungen gerade abschließe, kommt eine Frau schnellen Schritts an mir vorbei. Nach den vielen Radwanderern, die mich überholten, endlich jemand, der auch zu Fuß geht. Vielleicht eine Pilgerin? Doch die rüstige Dame mit den kleinen Stadtrucksack eilt so zügig an mir vorbei, dass ich erst gar nicht sie nicht dazu komme, sie anzusprechen. Als ich endlich wieder auf dem Weg bin, ist sie schon hunderte Meter weit voraus. Lange Zeit sehe ich sie als bunten Fleck zwischen den Feldern, der gepäcklos allmählich aus meinem Blick entschwindet. Dennoch ist ein gutes Gefühl, nicht der einzige Fußgänger zu sein. Noch zu ungewohnt ist mir der Gedanke, etwas zu tun, das heutzutage nicht viele tun: sich zu Fuß auf einem unbekannten Weg zu machen. Schließlich verliere ich sie ganz aus Augen und begegne ihr auch nicht mehr. Wieder bin ich allein unterwegs, und denke über Hape Kerkelings mysteriösen Mitpilger nach, mehr Ideal-Ich als Alter Ego.
Am ehemaligen Bahnhof Königshain-Hochstein endet der Radweg. Neben dem Bahnhofsgelände biegt der Weg auf eine Landstraße ab, die steil auf einen Wald zuhält. Zwei Radfahrer, die mir den Berg hinab entgegenrasen, genießen die schnelle Abfahrt, und sicher auch den kühlen Fahrtwind, der mir fehlt. Ich schwitze beständig unter der Anstrengung des ungewohnten Gehens.

Ich wandere die Steigung hinauf in den Königshainer Forst, schwitze und schwitze. Mein Hemd, dass ich am Liebsteiner Bahnhof über einem Strauch im Wind getrocknet habe, ist bereits wieder nass. Zum ersten Mal auf meiner Fußreise komme ich in einen Wald. Ich freue mich auf den Schatten der Bäume und mühe ich mich gerne die Steigung hinauf, 400 Meter hinauf zum Hochstein. Auf halbem Weg passiere ich eine Hinweistafel, die auf einen weiteren der ehemaligen Granitsteinbrüche aufmerksam macht, und der zu einem Granitmuseum ausgebaut wurde. Heute geschlossen! An einer Kreuzung werde ich unsicher, verstehe nicht, welcher Weg der richtige nach Arnsdorf ist. Ich frage ein junges Paar, aus dem polnischen Geriz zu Besuch, die auf dem Hochstein spazieren gehen. Er fragt zurück: Arnsdorf, was ist denn das? Das hätte mich skeptisch machen müssen, aber nachdem die beiden auf Polnisch miteinander geklärt haben, um was es mir geht, zeigt die junge Frau selbstbewusst in die falsche Richtung, was ich zu spät bemerke. Immer weiter führt der Weg bergan. Ein schöner Laubwald im Frühjahr, der mich mit frischem Grün empfängt, noch bevor ich weiß, was vor mir liegt. Zwischen den Bäumen sehe ich einen aus mächtigen Steinplatten aufgeschichteten Felsen durch das Dickicht der Äste. Von der Natur ordentlich aufeinander gelegte Steinplatten bilden einen massiven Quader, der an die Externsteine bei Lemgo erinnert: Der Hochstein. Mein Weg endet am Felsen, dem ein Biergarten zu Füßen liegt. Die Hochsteinbaude: Dienstag geschlossen!

Der Hochstein, nordwestlich der Gemeinde Königshain, eine Erhebung in den Königshainer Bergen, sorbisch Limas, der östlichen Oberlausitz, liegt 406 Meter über NN; die zweithöchste Erhebung der Königshainer Berge. Seit 1974 sind die Berge ein Landschaftsschutzgebiet, mit einem ausgedehnten Vogelschutzgebiet, dem Elysium, Teil eines ehemaligen Firstensteinbruchs. Den Gipfel des Hochsteins bilden einige vom Steinbruchbetrieb verschont gebliebene, freistehende Felstürme aus oberkarbonischem Granit. Sie dienen einer zweiundzwanzig Meter hohen Stahlkonstruktion mit runder Aussichtsplattform als Basis für einen Aussichtsturm.

Der Europäische Fernwanderweg E 10 sowie der Jakobsweg Via Regia kreuzen den Gipfel des Hochsteins. Nur wenig abseits der Via Regia, eine Markierung weist den Weg, liegt der Totenstein, eine weitere, zehn Meter hohe Felsgruppe. In ur- und frühgeschichtlicher Zeit dienten die Felsen als Kultplatz, was Plätzen wie diesem wegen seiner eigenartigen Atmosphäre schnell nachgesagt wird. Neben hoch- und spätmittelalterlicher Keramik gehören Keramikscherben, Pfeilspitzen und Schmuck aus der Bronze- und Eisenzeit zu den ältesten Funden, von denen Carl Adolph Gottlieb von Schachmann zahlreiche gefunden hat, die dreitausend Jahre alt sind. Kaiser Friedrich Wilhelm IV. hat den Totenstein 1844 als Denkmal der Vorzeit unter Denkmalschutz gestellt.
Ratlos stehe ich vor dem imposanten Naturdenkmal auf dem Hochstein. Noch während ich über den weiteren Weg nachdenke, kommen die nächsten polnischen Touristen den Weg hinauf. Sie sprechen nur Englisch, haben aber eine gute Karte, leider keine topographische. Das gemeinsame Kartenstudium macht mich nicht klüger. Alles spricht dafür, dass der Weg hier endet, und sich mein Wanderführer irrt. Ein zweites Mal lasse ich mich von Ortsunkundigen in die Irre führen. Auf der Suche nach einem geeigneten Weg abwärts, umrunde ich die geschlossene Hochsteinbaude. Ich finde einen schmalen, brauchbaren Pfad, der steiler durch das Waldesdunkel hinabführt, als ich aufgestiegen bin. Schließlich verliert sich der Weg im Gelände, was ihn als modernen Pilgerweg disqualifiziert. Über Stock und Stein klettere ich abwärts, hinunter auf eine frisch gedüngte Wiese, die in der Sonne, die sich wieder durch die Wolken drängt, grün leuchtet. Weiter hinten fahren einzelne Autos auf einer Landstraße durch mein Blickfeld. Ein freundlicher Autofahrer auf dem Weg nach Hause, den ich kurz entschlossen anhalte, weist mir den Weg auf eine windige Landstraße, die von Königshain nach Arnsdorf führt, ein im 12. Jahrhundert von Siedlern aus dem fränkisch-thüringischen Raum gegründetes Waldhufendorf in den sumpfigen Niederungen der Schwarzen Röder. Arnsdorf, nur fünfzehn Kilometer von Dresden entfernt, hat heute 4910 Einwohner. Die Via Regia habe ich nicht wiedergefunden, aber die Richtung stimmt. Parallel zum Pilgerweg gehe ich die fünf Kilometer über eine kaum befahrene Landstraße nach Arnsdorf, wo ich an einem Kriegerdenkmal die Via Regia wiederfinde. 1912 eröffnete die Königlich-Sächsische Heil- und Pflegeanstalt Arnsdorf ihre Pforten, eine der größten Sachsens, deren psychiatrisches Personal sich am Euthanasieprogramm des Nationalsozialismus beteiligte. Die Einrichtung diente der Aktion T 4, Synonym für die systematische Ermordung von Menschen mit körperlichen, geistigen und psychischen Behinderungen, als Zwischenaufenthalt der Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein. Über Arnsdorf wurden über zweihalbtausend Patienten dorthin verlegt und ermordet. Kein guter Platz für eine Rast, will man sich mit dem Leid und dem Scmerz, den der Boden des Dorfs aufgesogen hat, nicht infizieren.
Noch ist früher Nachmittag, und obwohl meine Füße nicht begeistert sind, entschließe ich mich, die wenigen Kilometer über Döbschütz nach Melaune weiterzugehen.

Dass ich dabei am Döbschützer Wasserschloss vorbeikomme, auf dem schönsten Pfad des Tages, ahne ich noch nicht. Döbschütz, sorbisch Dobšicy, ein Ortsteil der ostsächsischen Gemeinde Vierkirchen, besitzt nur noch 15 Einwohner. 1959 erfolgte die Eingemeindung nach Melaune mit der Döbschütz 1994 in die neu gegründete Gemeinde Vierkirchen aufgenommen wurde. Das Wasserschloss im Ort gehört zu den ältesten Schlössern der Oberlausitz und ist Stammsitz des oberlausitzen Uradelgeschlechts von Debschitz. Die Stammreihe beginnt mit Christoph von Debschitz († 1496), Gutsherr auf Schadewald und Döbschütz, 1280 erstmals urkundlich erwähnt wird ein gewisser Hugo de Dobswicz. Der Ortsname geht auf das altsorbische Dobešici oder den Eigennamen Dobeš zurück, und enthält das Etymon *dob- gut beziehungsweise günstig. Der erweiterte Rundweiler deutet an, dass der Ort einst eine slawische Siedlung war, die während der deutschen Ostexpansion im 12. Jahrhundert übernommen wurde. Archäologische Funde zeigen, dass die Siedlung bereits im ausgehenden 9. Jahrhundert angelegt wurde. Seit der Reformation sind Döbschütz und Melaune eine Pfarrei.
Das Wasserschloss liegt auf dem rechten Ufer der Schwarzen Schöps. Wann es erbaut wurde, ist unsicher, aber bekannt ist, dass sich bereits 1174 der böhmische König Vladislav II. und seine Gemahlin Jutta auf ihrer Flucht hier aufgehalten haben. Zeichnungen an der Hauswand und eine Küche aus dem 11. Jahrhundert sprechen für diese Annahme. Das sagenumwobene Gebäude war ursprünglich eine Wasserburg, die durch einen Wallgraben geschützt wurde, über den zwei Zugbrücken führten.

Die Burg wurde wahrscheinlich im 1. Jahrhundert als slawische Schanze errichtet, die später einem Feuer zum Opfer fiel, denn Reste von verkohltem Holz findet man bis heute in nur dreißig Zentimetern Tiefe. In Kriegszeiten war der Burgberg immer mit Artillerie besetzt, ob bei der Schlacht von Hochkirch oder den Napoleonischen Befreiungskriegen. Das Döbschützer Schloss zählt zu den ältesten Wehranlagen in der Oberlausitz. Schloss und Burgberg waren königlicher Besitz. Um 1218 gehörte es Kunigunde von Staufen, Ehefrau Wenzel I. und Königin von Böhmen, war also keinem Lehnsträger gegeben worden. Erst danach ging das Wasserschloss an die Familie von Deschitz. Ihr Wappen ziert bis heute den Sturz über der Eingangstür: auf einem Schild das grüne Blatt einer Mummel, darüber ein Helm mit grüner Helmdecke, dem Nacken- und Kopfschutz, und über dem Helm zwei geschlossene, weiße Flügel mit einem kleineren Seerosenblatt. Nach einer wechselvollen Geschichte kaufte der sächsische Kurfürst 1767 das Anwesen und ließ dort eine Besserungsanstalt für Gefangene einrichten. Ich will erst gar nicht wissen, wie viel Schrecken und Grausamkeiten in den drei Jahren des Bestehens dieser Institution in die Mauern des Schlosses eingesickert sind. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts brannte ein Teil des Schlosses ab, musste umfassend neu gebaut werden und erhielt nun seine endgültige, neugotische Form. Die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs an der oberen Turmhälfte wurden nicht mehr restauriert. Das Wasserschloss steht auf der Liste Denkmale des Städtebaus und Architekturensembles. Es gehört seit 2001 der Familie Rößler, die es vollständig saniert und 2003 als ein Museum eröffnet hat.

Von Döbschütz nach Melaune ist es nicht sehr weit. Der kleine Ort liegt um die Ecke an der Schwarzen Schöps. Nur ein Spaziergang entlang des Flüßchens, dessen Wasser auch den Graben des Döbschützer Schlosses versorgten. Der Schwarze Schöps besaß einmal einen überaus reichen Fischbestand, sodass Strecken zum Abfischen und Angeln verpachtet wurden. Der Erlös aus diesem Geschäft floss in die Armenkasse der jeweiligen Gemeinde. Fischotter und Biber soll es am Fluss noch geben, auch zahlreiche Wasservögel, unter ihnen Graureiher und Fischreiher. Gesehen habe ich sie nicht, aber sie hören den Wamderer lange bevor er sich ihnen nähern kann. Ich gehe auf weichem Untergrund nach Melaune, unter den dichten Kronen von Winterlinde, Stieleiche und Schwarzpappel. Nah am Ufer wachsen Weiden und Robelien. Haselnüsse und Brombeerranken, aber auch viele Sumpf- und Wiesenblumen. Ich kann nicht anders, dem Mann, der mir mit seinem Retriever entgegenkommt, muss ich sagen, welch einen schönen Weg er doch vor der Haustür hat. Und schon entspinnt sich ein spannender Small Talk. Während der Hund um uns herumwuselt, erzählt der Mann mir von Melaune und dem Wasserschloss.
Nachdem der Schwarze Schöps eine Vielzahl von kleinen, wasserreichen Bächen aufgenommen hat, vereinigt er sich mit der Weißen Schöps. Gemeinsam fließen sie in die Spree. Das Flusswasser soll in den letzten Jahren sauberer geworden sein. An einer aufgegebenen Wassermühle am Schwarzen Schöps beginnt Melaune, ein klassischer Dorfrundling aus slawischer Zeit, das heute noch 380 Einwohner zählt. Urkundlich erwähnt wird das Dorf 1239 als Merowe erstmalig in einer Schenkungsurkunde des Kloster Sankt Marienthal, als Wenzel I., König von Böhmen, dem Kloster den Besitz der Niederdörfer im Görlitzer Kreis bestätigt. Auch Melaune war 1756 von der Schlacht von Hochkirch im Siebenjährigen Krieg betroffen, ebenso vom napoleonischen Krieg zwischen 1801 und 1813 sowie dem preußisch-österreichischen Krieg von 1866 und auch vom Zweiten Weltkrieg. Jedes Mal hatte der Ort zahlreiche Tote zu beklagen. Ein Massengrab wurde unter dem Kriegerdenkmal gefunden.
Das altsorbische Wort měr gehört dem Wortfeld für Frieden an, den das Dorf in Verlauf seiner Geschichte oft entbehren musste. Jetzt ist Melaune ein friedlicher, in der Abenddämmerung verwunschen wirkender Ort. Schon der Eingang in das Dorf, am späten Nachmittag wie ausgestorben, ist etwas Besonderes, Jenseits der Brücke, die an einer aufgegebenen, aufwändig restaurierten Mühle vorbeiführt, windet sich die Straße eine kleine Steigung empor, die sich schnell hinter den Häusern verliert. Melaune ist die Mühe und die schmerzenden Füße wert.
Mein Quartier, die Evangelische Jugendscheune Melaune e.V., entstand als ein Zentrum der Kinder- und Jugendarbeit. Ende der 1980er Jahre wurde die Scheune auf dem Pfarrgrundstück der Evangelischen Kirchengemeinde um- und ausgebaut. Es entstand eine Herberge mit 25 Betten und einem Gruppenraum. Im Laufe der Jahre kamen weitere Betten in dem 1911 gebauten Pfarrhaus hinzu. Heutzutage sind Übernachtungen für Gruppen bis 35 Personen möglich, die sich in dem Haus, das auch die Jakobspilger beherbergt, selbst versorgen können. Die Pilger werden im Dachgeschoss einquartiert, drei Treppen hoch. Amüsiert erzähle ich meiner Gastgeberin, dass ich in Görlitz erst gestern in einem Keller übernachtet habe, und schon am zweiten Tag aufgestiegen bin. Die Herberge ist modern saniert, komfortabel und geräumig. Ich kann mir ein Bett in einem der drei Zimmer wählen, denn leider bleibe ich auch heute allein. Erst morgens sind zwei Pilgerinnen aufgebrochen, denen ich auf der Spur bin, ohne sie zu kennen.

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