Ich schaue aus dem Fenster und verliere die Lust aufzustehen. Anscheinend hat es die ganze Nacht geregnet. An den Scheiben verbinden sich die Tropfen zu Rinnsalen, die langsam abwärts fließen. Leben heißt, auf etwas zuzuwandern. Doch warum gleich im Regen? Ortega y Gasset hat diesen Satz sicher am Schreibtisch und im Trockenen geschrieben, beruhige ich mich, bleibe liegen und verschlafe schließlich. Heute ist mein Geburtstag: mein fünfundsechzigster. Ich glaube, ich bin das erste Mal in meinem Leben an meinem Geburtstag allein. Eine Premiere! Ohne Netz keine Glückwünsche. Keine Feier! Kein Zusammensein mit anderen Wanderern. Niemand kann mich telefonisch erreichen. Bedeutet netzlos sein, von der Kommunikation ausgeschlossen zu sein? Natürlich nicht, höchstens abgeschnitten, für eine Weile. Es gab eine Zeit, da spielte das keine Rolle. Wochenlang reiste ich durch Europa und Asien; niemand konnte mich erreichen, und ich niemanden. Familie und Freunde wussten nicht, wo ich war und wie es mir ging. Was in der Heimat geschah, dass konnte ich mir allenfalls ausmalen. Inzwischen hat das Smartphone die Kontrolle über unsere Bedürfnisse übernommen, und ohne es wirklich zu wollen, mache ich mir überflüssige Gedanken. Ob jemand ein Glas Sekt für mich trinkt, und dabei an mich denkt? Ganz bestimmt. Es ist in Ordnung wie es ist. Ich habe es nicht anders gewollt. Ob die Meinen damit auch so gut zurechtkommen? Macht es Sinn, nach Bedeutung zu fragen, wenn es keine Antwort gibt? Die eigenen Fantasien wurzeln in archaischen Bedürfnissen und schlagen lustige Kapriolen. Ich fühle mich ein wenig verspottet, weiß aber einen Augenblick später, dass auch das zur Heimat gehört. Sehnsucht richtet sich manchmal rückwärts. Geburtstage sind weniger wichtig geworden, seit ich älter bin. Ich vermeide sie inzwischen gerne, und setze mich über die Konvention hinweg, dass jedes neue Lebensjahr mir eine Feier bereiten muss. Ich zelebriere mein neues Jahr auf meine Weise: Ich wandere durch Sachsen und erfülle mir einen Traum von Ungebundenheit und Freiheit. Es gilt noch immer: I wasn´t born to follow! Vielleicht ein Anfang. Ich fühle mich melancholisch, nicht einmal traurig. Ich denke an John Lennon und weigere ich mich trotzig, Fünfundsechzig zu sein. Da ist nicht unvernünftig. Fast bin ich Pensionär und kein Arbeitsleben beeinflusst mich länger. Ein wahrhaft großartiges Geburtstagsgeschenk. Grund genug für ein rauschendes Fest. Rente mit 67! Welch ein Witz! Die Inkompetenz der Volksvertreter, der etablierten politischen Klasse, versteht es hervorragend, nur ihre Klientel zu bedienen und in die eigene Tasche zu wirtschaften. Sie haben mir fünf Monate gestohlen.
Die morgendliche Stille in der Jugendscheune von Melaune ist absolut. Ich höre nichts, nur die Geräusche, die ich selbst mache, und frage mich, ob Stille nicht mehr ist als nichts, mehr als die Abwesenheit von Geräuschen, von Lauten, von Lärm und dem allgegenwärtigen Klang der Großstadt. In der Stille von Melaune werden meine Gedanken laut, und meine Gefühle suchen nach den richtigen Worten. Paul Simon thematisiert in seinem Lied The Sound Of Silence das Unbehagen von Menschen an der Stille, die häufig in Ängste, Depressionen und Schlafstörungen mündet:
Sonntag, 30. Mai 2021
Durch die Gröditzer Skala
Dienstag, 4. Mai 2021
Aufbruch an der Neiße
Ich schwitze schon, bevor meine Fußreise wirklich begonnen hat. Als ich die U-Bahn am Südstern erreiche, weiß ich, dass mein Rucksack zu schwer ist. Lange habe ich überlegt, was ich wirklich brauche, habe in den letzten Tagen aussortiert und wieder einsortiert, und zuletzt eine Entscheidung getroffen. Während ich zum Südstern gehe, fällt mir nichts ein, was ich wieder auspacken könnte. Einfachheit und Bescheidenheit zu wollen, heißt nicht, sie sofort umsetzen zu können. Idealisierung ist leicht, mit den Konsequenzen zu leben, dagegen etwas völlig Anderes. Immer wieder fällt mir mein Bedürfnis nach Kontrolle und Sicherheit in den Rücken. Eine Fußreise ist allerdings alles andere als überschaubar oder planbar. Loslassen ist eine Kunst, die ich immer wieder gegen meine Gewohnheiten verteidigen muss. Während ich in den U-Bahnschacht hinuntergehe, kommt mir Nelly Sachs in den Sinn: Alles beginnt mit der Sehnsucht, meint sie. Ich hätte mein Leitmotiv nicht besser ausdrücken können.
In der überfüllten U-Bahn läuft mir der Schweiß bereits in Strömen den Rücken hinab, und tropft mir von der Stirn. Schon zu Beginn erlebe ich die ersten Konsequenzen der Unsicherheit vor einer Reise, wie ich sie vorher erst ein einziges Mal unternommen habe: Allein durch unbekanntes Gebiet zu wandern, eine Gegend in Deutschland, die mehr oder weniger dicht besiedelt und strukturiert ist. Doch ich bin mir sicher: Es ist nicht möglich, sich in Europa zu verlaufen. In meiner Anspannung bin ich viel zu früh am ZOB, wo trotz der morgendlichen Stunde reges Leben herrscht. Der Bus mit dem ich nach Görlitz fahre, ist fast leer. Kein Geschäft für den Postbus, für mich aber eine angenehme, vierstündige Reise.
Nach einem Jahr bin ich wieder in Görlitz. Schwer beladen suche ich mir den Weg in die Stadt und lande schwitzend im Café Schwerdtner, genau wie im letzten Jahr, als ich auf Ralf warten musste, dieses Mal aber ohne Fahrrad. Ein Eis-Orange-Drink kühlt mich auf angenehme Temperatur herab, ein nachgeschobener Cappuccino besiegt den Spannungskopfschmerz; die letzte Nacht war viel zu kurz. Aber ich fühle mich zu Hause in Görlitz, komme mir vor, wie ein alter Bekannter, der noch einmal kurz vorbeischaut.